Spurensuche in Halle: Vergessene Philosophinnen und deutsche Metaphysiker
„Für mich ist Halle mehr ein ‚Hallewood‘“, sagt der Kanadier. Seit einem halben Jahr studiert Corey Dyck im Rahmen eines Forschungsstipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung die Schriften berühmter hallescher Gelehrter. Egal ob im Stadtmuseum, auf dem Gertraudenfriedhof oder in den Lichtkästen am Riebeckplatz: Überall stößt der Philosophie-Professor auf Spuren der Menschen, deren Werke er seit Jahren erforscht.
„Für Historiker der Philosophie und für Aufklärungsforscher aus aller Welt hat sich Halle zu einem echten Reiseziel entwickelt“, so Dyck, dessen Gastgeber Prof. Dr. Heiner Klemme ist. Diese internationalen Gäste trifft man häufig im Lesesaal der Bibliothek des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA). „Die Literatur dort ist einmalig“, schwärmt der Humboldt-Stipendiat, der sich auch privat gern auf die Suche nach wertvollen Erstausgaben oder frühen Editionen philosophischer Werke macht.
„Ich möchte die ersten 50 Jahre der Metaphysik in Deutschland darstellen“, sagt er über sein Forschungs-Projekt. Viele Gelehrte der Universität Halle diskutierten zur Zeit der frühen Aufklärung die universalen Fragen der Metaphysik – Fragen, die sich nicht durch bloße empirische Beobachtungen erklären lassen. Etwa: Was ist das Sein und was ist die Seele? Texte von Christian Wolff, Georg Friedrich Meier, Alexander Gottlieb Baumgarten, Christian Thomasius und Johann Joachim Lange gehören ebenso zu Dycks Lektüre wie das Werk von Johanna Charlotte Unzer.
Johanne Charlotte Unzer - Eine bemerkenswerte Philosophin
Heute ist die Philosophin und Schriftstellerin in Vergessenheit geraten. 1725 wurde sie als Tochter des Organisten der Ulrichskirche unter dem Namen Johanna Charlotte Ziegler in Halle geboren. Obwohl ihr der Besuch von Schule und Universität versagt blieben, eignete sie sich eine umfängliche Allgemeinbildung an und vertiefte sich in den philosophischen Diskurs ihrer Zeit. Im Alter von nur 25 Jahren veröffentlichte Unzer ihr außergewöhnliches Werk „Grundriß einer Weltweißheit für das Frauenzimmer“, in dem sie sich insbesondere mit den Texten des Wolff-Schülers Alexander Gottlieb Baumgartens auseinandersetzt.
„Unzer ist eine der wenigen Frauen dieser Zeit, die über Philosophie schrieben. Sie scheute auch vor den komplexesten philosophischen Texten nicht zurück und äußerte sich – wenngleich eher skeptisch – zur Metaphysik. Das war damals wirklich bemerkenswert“, sagt Dyck. In ihren Texten versuchte sie, die Theorien der Philosophen nicht abstrakt, sondern so konkret wie möglich zu beschreiben, um auch Laien und damit insbesondere Frauen einen Zugang zu der Thematik zu ermöglichen. „Sie skizziert die Philosophie als Weltweisheit, an der jeder teilhaben kann – unabhängig vom Geschlecht. Frauen sollten nach ihrer Vorstellung die Texte der Philosophen selbstständig studieren und das Wissen dieser Männer evaluieren.“
Und obwohl es noch mehr als 150 Jahre dauern sollte, bis sich die ersten Studentinnen offiziell an deutschen Universitäten einschreiben durften, war Unzer mit ihrer Meinung zur Bildung von Frauen damals in Halle nicht allein, berichtet Corey Dyck: „Christian Thomasius hat genauso gedacht und auch von Christian Wolff ist zumindest in einem Briefwechsel mit Ernst Christoph Graf von Manteuffel belegt, dass er an einem Philosophie-Vortrag für Damen gearbeitet hat. Die frühe Aufklärung ist in der Hinsicht nicht weniger aufgeklärt als die Kantsche Aufklärung“, betont Dyck.
Auch anderswo in Deutschland beteiligten sich im 18. Jahrhundert immer mehr Frauen aktiv an den intellektuellen Diskussionen ihrer Zeit. Insgesamt 23 dieser Vorreiterinnen stellt Dyck auf seiner englischsprachigen Website „Women Intellectuals of 18th Century Germany“ kurz vor. Zu ihnen gehört neben Unzer auch die Ärztin Dorothea Erxleben, die 1754 in Halle als erste Frau an einer deutschen Universität promoviert wurde. Im Herbst plant er an seiner Heimatuniversität, der Western University im kanadischen London, Ontario, eine Tagung zu den deutschen Philosophinnen des 18. Jahrhunderts.
Denn international werde zwar durchaus über frühe Philosophinnen diskutiert. „Aber der deutsche Kontext wird bislang kaum berücksichtigt, weil diese Frauen natürlich auf Deutsch schrieben und ihre Werke international einfach nicht wahrgenommen werden“, erläutert der Kanadier und ergänzt: „Generell ist man noch immer der Ansicht, dass die deutschen Philosophen zu Beginn des 18. Jahrhunderts wenig originelle Ideen hatten.“ – Ein Irrtum, findet Dyck und ist damit beim Kern seines aktuellen Humboldt-Forschungsprojekts angelangt: Den Anfängen der Metaphysik in der deutschen Philosophie.
Ein Streit in Halle sollte die Aufklärung prägen
Christian Wolff, der von 1706 bis 1723 als Professor für Professor für Mathematik und Philosophie an der Universität Halle lehrte, setzte sich in seinen Werken intensiv mit Fragen der Metaphysik auseinander. Er prägte so gemeinsam mit seinen Anhängern, Wolffianer genannt, als einflussreichster Philosoph seiner Zeit die Forschung und Lehre im gesamten Heiligen Römischen Reich. – Zumindest, bis Immanuel Kant seine „Kritik der reinen Vernunft“ veröffentlichte, in der er sich gegen diesen „Wolffianismus“ und die klassische Metaphysik wandte. Kants Kritik markierte eine Wende in der deutschen Philosophie und brachte eine Abkehr von Wolff mit sich, die bis heute anhält.
„Wolff findet in der aktuellen Forschung kaum statt und wenn, dann wird sein Werk nur sehr verkürzt und stets im Zusammenhang mit Kants Kritik wiedergegeben“, so Corey Dyck. Weder Wolffs Leben, noch sein Streit mit den halleschen Pietisten sind bislang umfänglich wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Das will der Forschungsstipendiat jetzt ändern. „Seine Arbeit ist wesentlich origineller und bedeutender, als sie gemeinhin dargestellt wird. Er ist ein eigenständiger, innovativer Vertreter des Rationalismus und kein bloßer Metaphysiker in der Tradition von Gottfried Wilhelm Leibniz.“
Mit Wolffs Disput mit den Pietisten verhalte es sich ganz ähnlich wie mit seiner Person. „Der Pietismus wird international oft als Gegner der Aufklärung angesehen, aber auch diese Darstellung ist verkürzt.“ Dyck möchte die Geschichte dieses Streits neu erzählen. Denn die Kluft, die zwischen den Philosophen des Pietismus und der Aufklärung bestand, sei für die spätere Aufklärung prägend gewesen. „Ohne Wolff und seinen Streit mit den halleschen Pietisten hätte es die deutsche Aufklärung in dieser Form nicht gegeben“, fasst er seine Arbeitsthese zusammen.
Corey Dycks Paper "On Prejudice and the Limits of Learnedness - The Women Intellectuals of 18th Century Halle" ist für Nutzer von academia.edu online abrufbar
Internationale Mendelssohn-Tagung in Halle
Im Rahmen seines Humboldt-Forschungsstipendiums untersucht Corey Dyck auch das Werk des Philosophen Moses Mendelsohn. Vom 23. bis zum 24. Mai veranstaltet er gemeinsam mit seinem Gastgeber Prof. Dr. Heiner Klemme eine internationale Fachtagung mit dem Titel „The Philosophy of Moses Mendelssohn – Die Philosophie von Moses Mendelssohn“.