Studenten: Zur Demo, aber nicht zur Wahl?
Es scheint, als gäbe es kaum einen Studenten an der Martin-Luther-Universität, der nicht mindestens einmal in seiner Uni-Zeit demonstrieren gegangen ist – gegen drohende Kürzungen oder Schließungen zum Beispiel. Vielleicht hat er sogar ein Plakat gebastelt oder das Audimax besetzt, vielleicht war er Teil von „Halle bleibt“ oder hat im Einsatz für die Sportwissenschaften das Melanchthonianum in ein Floorball-Spielfeld verwandelt. Wenn es um Hochschulpolitik geht, sind hallesche Studenten sehr aktiv, könnte man daraus schlussfolgern. Die Beteiligung an Hochschulwahlen aber ist in Halle auch 2014 ähnlich niedrig wie anderswo. Nicht mal jeder fünfte Studierende gab seine Stimme für einen studentischen Vertreter in den hochschulpolitischen Gremien ab. Wie passt das mit der aktiven studentischen Protestkultur zusammen? Das haben sich Marie Anne Darr, Marc-David Herrmann, Michael Ledwa, Alexander Riedle und Christoph Ruck gefragt. Und nach zwei theoretisch ausgerichteten Modulen zu den „Methoden der empirischen Sozialforschung“ hatten sie das Rüstzeug, dieser Frage im Seminar von Dr. Kerstin Völkl auch praktisch auf den Grund zu gehen. In dem Seminar, das Völkl im Sommersemester 2014 zum ersten Mal veranstaltet hat, konnten die Studierenden der Politikwissenschaften das Gelernte erstmals selbst anwenden und in einer Projektarbeit umsetzen.
Die fünf Bachelor-Studenten grenzten zuerst ihr Thema auf eine konkrete Forschungsfrage ein, die lautete: Welche Faktoren beeinflussen, ob sich Studierende der MLU an hochschulpolitischen Prozessen beteiligen und welches Ausmaß haben diese Faktoren? Eine Frage, mit der sich bundesweit bislang kaum jemand beschäftigt hat. „Der Stand der Forschung war fast Null und bei der wenigen Literatur, die wir finden konnten, waren die Ergebnisse sehr unterschiedlich“, berichtet Alexander Riedle. Gemeinsam mit seinen Kommilitonen musste er zunächst überlegen, wie studentische Partizipation und ihre Ursachen überhaupt in messbaren Daten erhoben werden können. In einem zweiten Schritt konnten dann eigene Messinstrumente entwickelt werden. „Wir haben drei Einflussfaktoren als unabhängige Variablen definiert, von denen wir vermuteten, dass sie eine Rolle spielen: Die Informiertheit über ein Thema, die Präsenz des Themas und die persönliche Betroffenheit der Studierenden“, erklärt der 26-Jährige. Gemeinsam erstellten die fünf einen Fragebogen, in dem die inhaltlichen Aspekte mittels Variablen abfragt werden.
Ein zeitintensives Unterfangen, das dennoch Spaß gemacht habe, versichert Marie Anne Darr: „Es ist ein großer Unterschied, einmal nicht mit fremden Beispielen zu arbeiten, sondern sich ganz konkret Gedanken darüber zu machen, was für unsere eigene Fragestellung die beste Methode und das beste Vorgehen ist.“ Jede Woche traf sich die Gruppe für zwei Stunden, um über den Fortlauf der Arbeit zu diskutieren. Jeder war für einen anderen Teil der 70 Seiten starken Arbeit verantwortlich. An der „Feldphase“ – den insgesamt 97 Interviews, die sie mit Kommilitonen geführt haben – beteiligten sich hingegen alle. An fünf zufällig ausgelosten Standorten befragten sie Studierende der MLU. „Die meisten waren an unserer Untersuchung sehr interessiert. Das hatten wir so gar nicht erwartet“, erzählt Riedle. Mit Hilfe einer Analysesoftware werteten sie die Daten aus. Das Ergebnis: Zwei ihrer drei gewählten Variablen beeinflussen die studentische Partizipation entscheidend: „Ob sich ein Student politisch engagiert, hängt davon ab, wie gut informiert er ist und wie präsent das Thema ist“, fasst Alexander Riedle das Resultat der Studie zusammen. Keinen Zusammenhang konnten sie hingegen zwischen der studentischen Partizipation und der eigenen Betroffenheit feststellen. „Das hat uns überrascht. Aber im Rahmen unserer Arbeit ist nicht möglich, dafür nach Erklärungsansätzen zu suchen“, sagt Darr.
Dozentin Kerstin Völkl zeigte sich von der Arbeit begeistert: „Alle Beteiligten haben sehr viel Zeit und Arbeit in dieses Projekt investiert. Sie haben eigene Messindikatoren entwickelt und verschiedene Analysestrategien eingesetzt. Genauso wichtig ist die sehr gute Zusammenarbeit der Gruppe und der hohe Grad an Selbstständigkeit.“ Auch praktische Schlüsse lassen sich aus der Arbeit ziehen, zum Beispiel für die Mitglieder des Studierendenrats. „Man müsste die Hochschulwahl noch stärker thematisieren, indem etwa die Dozenten in diesen Informationsaustausch einbezogen werden und so die Präsenz des Themas und die Informiertheit gestärkt werden“, schlägt Riedle vor.
Die Projektarbeit als PDF: http://bit.ly/mlustudie