Studentisches Engagement und akademische Lehre
Was ist Service Learning?
Christiane Roth: Service Learning kann man als innovative Lehr- und Lernform bezeichnen. Innovativ weil hier Lehre an der Hochschule mit Aufgaben verknüpft wird, die aktuell tatsächlich in der Gesellschaft bedeutsam sind und von zivilgesellschaftlichen Organisationen bearbeitet werden. Diese Orientierung auf Gesellschaft ist in der Lehre allgemein nicht üblich. Als weiteres Element kommt hinzu, dass die Erfahrungen, die die Studierenden dabei machen, akademisch reflektiert werden. Diese Reflexion findet gezielt statt und kann auf den eigenen Kompetenzgewinn, die Berufsorientierung oder die Sinnhaftigkeit dessen, was man außerhalb der Hochschule macht, bezogen werden.
Woher kommt das Konzept?
Christiane Roth: Die Ursprünge gehen etwa 100 Jahre zurück und sind in der US-amerikanischen Reformpädagogik zu finden. John Dewey war es, der gesagt hat, dass Lernen nur durch Handeln stattfinden kann und Lernen eine grundsätzliche Voraussetzung für Handeln ist. Für Studierende bedeutet dieses, dass sie als Lernende nicht nur passive Konsumenten sind, sondern auch etwas an die Gesellschaft zurückgeben. Daher die Ausrichtung auf zivilgesellschaftliche Organisationen.
Holger Backhaus-Maul: Spätestens in den 1980er Jahren verbreiteten sich diese Ideen unter dem Namen Service Learning weiträumig in den USA. In Sachsen-Anhalt fand Service Learning bereits in den neunziger Jahren in Schulen Resonanz, so die Untersuchungsergebnisse von Karsten Speck und mir. Im Hochschulbereich – das macht unsere Untersuchung deutlich – tritt das Thema ab 2000/2001 zunächst sporadisch in Deutschland auf und mit der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge verstärkt sich die Entwicklung.
Wie kam Service Learning nach Halle?
Holger Backhaus-Maul: Die Verknüpfung von akademischer Lehre und Engagement hat an der Philosophischen Fakultät III einen sehr guten Nährboden, weil wir hier Erziehungswissenschaftler/innen ausbilden. Einige unserer Absolventen aus den 1990er Jahren sind heute in der Stadt Halle, in der Bürgerstiftung und in der Freiwilligen-Agentur Wortführer/innen in der Engagementdiskussion. Die Initiative für Service Learning gründet in der Zusammenarbeit zwischen unserer Fakultät, dem Rektorat, dem International Office und der Freiwilligen-Agentur. Die Idee ist vor sechs Jahren im Rektorat und im damaligen Akademischen Auslandsamt auf fruchtbaren Boden gefallen und das erste Service-Learning-Angebot in dieser Kooperation gab es dann bereits im Wintersemester 2007, - übrigens von Anfang an maßgeblich unterstützt von der Volksbank Halle.
Christiane Roth: Zu diesen Partnern kam 2010 der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) hinzu, der das Ziel hatte, die Teilhabe internationaler Studierender an unserer Universität zu verbessern. Service Learning kann für internationale Studierende besonders interessant sein, um Erfahrungen auch außerhalb der Hochschule zu machen. Dieses Pilotprojekt an der MLU hat auch an anderen Hochschulen großes Interesse geweckt. Die Seminare werden zweisprachig gehalten und die Studierenden sind in Teams unterwegs. Gleichzeitig wurden immer anspruchsvollere Projekte akquiriert. Im laufenden Sommersemester haben wir 29 Projekte im Angebot, die ganz verschiedene Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens betreffen. Auch an anderen Fakultäten gibt es bereits Lehrende, die aktiv sind und mit dem Begriff Service Learning endlich auch einen Namen haben für das, was sie tun. Beispielsweise führen Studierende der Agrarwissenschaften Konsumentenbefragungen zu regionalen landwirtschaftlichen Produkten durch und geben die Ergebnisse an einen Bauernverband weiter. Im juristischen Vertiefungsfach Migrationsrecht recherchieren Studierende die Rechtslage von Migranten in Halle, um das Personal einer Beratungsstelle für Migranten bei komplexen Fragen oder Gesetzesänderungen mit aktuellen Informationen zu unterstützen.
Was haben Sie für Ihre aktuelle Publikation untersucht?
Christiane Roth: Wir haben erstmals vermessen, ob und in welchem Umfang es Service Learning in Deutschland gibt und wie es sich an einzelnen ausgewählten Hochschulen entwickelt hat. Die Publikation ist eine erste empirische Bestandsaufnahme des Themas in Deutschland. Da Service Learning noch ein recht junges Phänomen ist, war unsere erste Frage: In welchem Ausmaß gibt es Service Learning an Hochschulen? Wir haben alle 368 deutschen Hochschulen befragt und die Hälfte von ihnen hat unsere Fragen beantwortet. 15 Prozent aller Hochschulen haben angegeben, dass sie Service Learning durchführen. Das war eine hohe Zahl, mit der wir so nicht gerechnet haben.
Holger Backhaus-Maul: Denn wenn sie Hochschulleitungen gezielt nach Service Learning in ihrer Hochschule fragen, ist das ist schon sehr voraussetzungsreich. Wir vermuten, dass viele Hochschulen diesen Begriff noch nicht verwenden oder in Einzelfällen auch nicht kennen, aber durchaus etwas tun, was man darunter fassen könnte.
Christiane Roth: Besonders interessiert hat uns, wie sich Service Learning an Hochschulen entwickelt und ausbreitet, das heißt, welche Schwierigkeiten und Herausforderungen es gibt und welche Voraussetzungen dazu beitragen, dass sich Service Learning erfolgreich entwickelt. Dazu haben wir die Universitäten Duisburg-Essen, Köln und Mannheim sowie die Fachhochschule Ludwigshafen eingehender befragt. Diese Hochschulen - so unsere Fallstudien - unterscheiden sich deutlich in der Entwicklung ihrer Angebote.
Wie hat sich Service Learning innerhalb der Hochschulen verbreitet?
Holger Backhaus-Maul: Zu Beginn sind es oftmals Einzelpersonen, die ein Thema wie Service Learning setzen. Dann wird irgendwann ein kritischer Punkt erreicht, an dem das Thema auf für andere anschlussfähig wird und man innerhalb der Universität und mit anderen Hochschulen darüber diskutieren kann. Zunächst haben wir gemeinsam mit der gemeinnützigen Agentur mehrwert und mit Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung das Thema ausgelotet. Inzwischen haben alle großen Stiftungen in Deutschland Service Learning zumindest in den Blick genommen, ebenso die Bundesregierung. In den nächsten Jahren wird es vorrangig darauf ankommen, dieses Konzept zumindest mittelfristig auf Dauer zu stellen.
Welche Forschungsfragen stellen sich zum Thema Service Learning?
Holger Backhaus-Maul: Service Learning thematisiert im günstigen Fall mindestens drei Dinge. Das eine sind Innovationen in der Lehre. Für die Lehrenden und die Studierenden bedeutet dieses, in Kontakt mit einer akademisch inspirierenden Realität außerhalb der Hochschule zu kommen und darüber gegebenenfalls auch forschend zu arbeiten. Das zweite ist die schrittweise Öffnung von Hochschulen, insbesondere von Universitäten, gegenüberr Gesellschaft, bezogen auf Lehre und Forschung. Und der dritte Aspekt ist natürlich, dass man diese Veränderungen in der Lehre an der Universität auch erforschen kann. Das haben wir mit Unterstützung der Agentur mehrwert aus Mitteln der Robert-Bosch-Stiftung in unserem Forschungsprojekt über zwei Jahre machen können.
Welches Fazit ziehen Sie aus Ihrer Untersuchung?
Christiane Roth: In unserer Studie hat sich gezeigt, dass die Voraussetzungen an Hochschulen für Service Learning grundsätzlich ganz gut sind, es aber kein Selbstläufer ist. Zum Beispiel gehört immer Öffentlichkeitsarbeit dazu, um das Thema voranbringen zu können. Auch ressourcenmäßige Restriktionen erschweren es, neue Lehrformate einzuführen, die anfangs mit einem etwas höheren Aufwand verbunden sind. Die nächste große Forschungsfrage, die sich in diesem Themenfeld stellt, betrifft die Wirkung von Service Learning. Zur Wirkung von Service Learning gibt es so gut wie kein empirisch fundiertes Material in Deutschland.
Holger Backhaus-Maul: Wir haben bei den Fallstudien nach hemmenden und fördernden Faktoren gefragt. Was begünstigt Service Learning, was bremst es eher aus? Die Gründe sind offensichtlich: Wenn man Geld einwirbt, kann sich eine Universität nicht dagegen sträuben, also findet Service Learning statt. Wenn eine Universität im Umbruch ist und Fusions- oder Restrukturierungsprozesse stattfinden, sind das zugleich gute Gelegenheiten, um en passant Innovationen wie Service Learning mit einzuführen. Es hat sich auch als sinnvoll erwiesen, wenn Universitäten kluge Sozialwissenschaftler/innen haben, die sagen: Das ist ein interessantes Konzept in der Weiterentwicklung der Hochschullehre, um fachliche Inspirationen zu generieren. Hochschulen sind nicht gerade dynamische, innovative Speerspitzen von Veränderung. Oftmals gibt es Zurückhaltung und Skepsis, wenn man vermeintlich Bewährtes möglicherweise ändern muss.
Christiane Roth: Die größte Herausforderung an Hochschulen besteht zurzeit darin, Mittel für reale Innovationen zu bekommen. In den letzten Jahren gab es in dieser Hinsicht zumindest positive Ansätze. Mehrere Stiftungen haben Förderprogramme ins Leben gerufen, um auch Service Learning zu stärken. Jetzt gilt es zudem Ministerien von Ländern und Bund davon zu überzeugen, dass das Thema Wert und Sinnhaftigkeit hat.
Wie soll es jetzt in Halle weitergehen?
Holger Backhaus-Maul: Wir werden das Thema mit Förderung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gemeinsam mit den Universitäten Duisburg-Essen und Augsburg sowie der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin und der Hochschule München erforschen. An der MLU stellt sich akut die Frage, ob das Rektorat Service Learning mittelfristig auf Dauer stellen will. Die Bereitschaft der Beteiligten ist vorhanden, jetzt ist konkret zu klären, wie die Konditionen und Verträge aussehen. Im bundesweiten Vergleich stehen wir ausgesprochen gut da.