Tatort Wahlkreis: Abgeordneten auf den Fersen
Zwischen Juli und August wird es so weit sein: Der Hallenser wird sie morgens in seinem Briefkasten finden, die Benachrichtigung zur Bundestagswahl 2013. Zurück auf dem Weg zum Frühstückstisch wird er sich vermutlich darüber Gedanken machen, welchem Kandidaten und welcher Partei er dieses Jahr sein Vertrauen ausspricht. Oder kommt es erst gar nicht so weit?
Zuletzt, zur Bundestagswahl 2009, lag die Wahlbeteiligung in Sachsen-Anhalt bei rund 61 Prozent – das schlechteste Ergebnis unter allen Bundesländern. „Politikverdrossenheit“ heißt das griffige Schlagwort, unter dem vielfältige Formen des Vertrauensverlusts in die Demokratie subsumiert werden. Doch welche Erwartungen haben die Wähler eigentlich an ihre Wahlkreisabgeordneten? Kennen sich Abgeordnete und Wähler überhaupt? Und mit welchem Selbstverständnis arbeiten die Politiker?
Ausgerechnet die Arbeit der Abgeordneten im Wahlkreis hat die Parlamentsforschung, eine Teildisziplin der Politikwissenschaft, bislang recht stiefmütterlich behandelt. „Die Parlamentsforschung hat sich ausgiebig mit der Arbeit der Abgeordneten im Parlament, beispielsweise bei der Ausübung der Gesetzgebungs- oder Kontrolltätigkeit, beschäftigt. Die Perspektive auf die Arbeit im Wahlkreis wurde jedoch in Deutschland weitgehend vernachlässigt“, erläutert der Politikwissenschaftler Dr. Sven T. Siefken von der Martin-Luther-Universität. Dabei verbringen die Abgeordneten rund 40 Prozent ihrer Zeit mit der direkten Arbeit in ihrem Wahlkreis.
Grund genug also für die Forscherteams aus Frankreich und Deutschland die Beziehungen, Arbeitsstrukturen und Anforderungen der Volksvertreter mit Blick auf Wähler und Wahlkreise genauer zu untersuchen. Vor drei Jahren startete das Projekt unter Leitung von Prof. Dr. Suzanne S. Schüttemeyer vom Institut für Politikwissenschaft der MLU, Prof. Dr. Oscar W. Gabriel von der Universität Stuttgart und Prof. Dr. Eric Kerrouche vom Institut „Sciences Po Bordeaux “.
Für das Vorhaben begleiteten die Forscher Abgeordnete des Deutschen Bundestages und der französischen Nationalversammlung in ihre Wahlkreise. Gleichzeitig fand eine repräsentative Bevölkerungsbefragung statt. Das Besondere an der vergleichenden Studie: Sie wurde als teilnehmende Beobachtung durchgeführt. Die Forscher konnten so einen unmittelbaren Eindruck von der Arbeitswirklichkeit der Abgeordneten erhalten, waren dabei nicht nur auf deren Selbstauskünfte in Interviews angewiesen, sondern konnten das reale Verhalten vor Ort aufnehmen.
Für jeweils drei Tage reisten 22 deutsche Politologen mit 63 Mitgliedern des Deutschen Bundestages in deren Wahlkreise. „Wir haben den Abgeordneten gesagt: Macht, was ihr immer tut, wir wollen euch begleiten, über die Schulter schauen und das Ganze dokumentieren“, umschreibt Siefken grob die Vorgehensweise. Ausgewählt wurden die Repräsentanten nach vorher sorgfältig bestimmten Kriterien, um in der Untersuchung ein möglichst deckungsgleiches Abbild des Bundestags zu erhalten. Zu den prominentesten Teilnehmern der Studie zählen Anette Schavan, Brigitte Zypries, Frank-Walter Steinmeier und Christian Ströbele.
Die anfängliche Skepsis einiger Abgeordneter habe sich bald gelegt: „Es war eine besondere Stärke der Studie, dass wir es geschafft haben, innerhalb der drei Tage vor Ort eine relativ enge persönliche Beziehung aufbauen zu können, teilweise sogar ein echtes Vertrauensverhältnis“, so Siefken. Überraschend sei für ihn gewesen, das andere Gesicht des Politikers – das des Generalisten – zu erleben: „Wir haben gesehen, dass viele Abgeordnete sich als ‚Kümmerer’ in allen möglichen Fragen verstehen.“ Erstaunt habe die Forscher auch die Bandbreite der Fragen, mit denen die Wähler an die Abgeordneten herantreten: „Das reicht von Eheproblemen über den Vortrag von eigenen Gedichten bis zu kuriosen Anfragen, ob man nicht selbst einmal das Bundesverdienstkreuz erhalten könne“, berichtet Siefken.
Doch was hat es nun mit der eingangs erwähnten „Politikverdrossenheit“ auf sich? Die Bevölkerungsbefragung hat gezeigt, dass sich circa die Hälfte der befragten Deutschen weder besonders schlecht noch gut repräsentiert fühlt. Fast jeder Dritte rechnet sich aber den Kategorien „schlecht repräsentiert“ bis „gar nicht repräsentiert“ zu. Bedenklich ist auch die Einstellung, Politiker vertreten zu allererst die Interessen ihrer Partei, und der Wahlkreis stehe hinten an.
Welche Schlüsse die Politik und die Politikwissenschaftler aus der Studie ziehen, bleibt abzuwarten, bis die Analysephase abgeschlossen ist und die Ergebnisse zum Jahresende 2013 veröffentlicht werden können. Was sich schon jetzt sagen lässt: „Je intensiver der Kontakt der Wähler mit ihrem Abgeordneten ausfällt, desto größer gestaltet sich das Vertrauen in das demokratische System“, erläutert Siefken. Vielleicht kann dem eingangs erwähnten Hallenser der Besuch einer Bürgersprechstunde seines Wahlkreisabgeordneten also einen Teil seiner Skepsis nehmen.