Turnen mit dem Avatar
Alexander Linde ist hochkonzentriert. Auf seinem Kopf sitzt eine Augmented-Reality-Brille, durch die er geradeaus in den Raum blickt. Gelegentlich tippt er mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand in die Luft. Was auf den Außenstehenden zunächst wie eine Trockenübung in Pantomime wirkt, ist in Wirklichkeit der Start einer virtuellen Therapie-Anwendung, die der angehende Informatiker gemeinsam mit elf Kommilitonen in einem Projektpraktikum entwickelt hat.
Es war die Idee vom Prorektor für Studium und Lehre Prof. Dr. Wolf Zimmermann, seines Zeichens Informatiker, in diesem Rahmen eine Kooperation mit der halleschen Universitätsmedizin zu schmieden. Dort rannte Zimmermann offene Türen ein, denn die technische Expertise seiner Studierenden steht im Dorothea Erxleben Lernzentrum (DELH) hoch im Kurs. Auch ein zukunftsorientiertes Thema war schnell gefunden: Die Studierenden sollten sich um den Aufbau einer avatargestützten Physiotherapie kümmern. Warum? „Weil sich damit neue Wege in der Physiotherapie eröffnen“, sagt Dr. Karsten Schwarz, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator am DELH.
Damit nimmt das Projekt einen Trend auf. Denn bundesweit, so Schwarz, werde derzeit nach Wegen gesucht, wie man die Gesundheitsvorsorge mit digitalen Lösungen unterstützen und ergänzen kann. Weil Sachsen-Anhalt vor großen demografischen Herausforderungen stehe, sei es ein erklärtes Ziel, zu einer Modellregion in diesem Bereich zu werden. Schwarz sieht in digitalen Lösungen ein großes Potenzial, um zum Beispiel älteren Menschen möglichst lange ein eigenständiges Leben zu ermöglichen. Als promovierter Wirtschaftsinformatiker arbeitet er in einem interdisziplinären Team aus Medizin, Informatik und Gesundheitswissenschaft zusammen. Die Idee für eine avatargestützte Physiotherapie passt gut in diesem großen Zusammenhang. Und die Kooperation ist für alle Seiten ein Gewinn. Schließlich hat man im „Erxleben Digital HealthCare Hub“ inzwischen viel Erfahrung mit computergestützten Anwendungen. Hier ist auch das Scidea Lab „Virtuelle Medizin“ der Universität angesiedelt, das Studierende wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universität bei der Entwicklung von Prototypen im Bereich der virtuellen Medizin unterstützt. Künftig sollen Projekte wie das nun abgeschlossene mit dem Hub noch einfacher möglich sein.
Von Juni 2020 bis April 2021 tüftelten die Informatik-Studierenden gemeinsam an ihrem Projekt, an dessen Ende ein Prototyp für die avatargestützte Physiotherapie steht. Zunächst galt es, sich in die Technik des „Motion Capturing“ einzuarbeiten. Dahinter verbirgt sich unter anderem ein Anzug mit sensorischen Punkten, wie er auch in der Filmindustrie zur Produktion animierter Spielfilme genutzt wird. Schlüpft eine Person hinein, können ihre Bewegungsabläufe - zum Beispiel bei Übungen in der Physiotherapie - von im Raum verteilten Kameras erfasst werden. Anschließend werden sie digitalisiert und können über eine Software verfügbar gemacht werden. Patientinnen und Patienten sehen später über diese Software die von einem virtuellen Therapeuten demonstrierten Bewegungsabläufe aus verschiedenen Perspektiven. Sie können ihre Übungen also auch dann durchführen, wenn ihnen ein Besuch in der Physiotherapie-Praxis – zum Beispiel aufgrund der Entfernung oder fehlender Mobilität – nicht möglich ist.
„Um die Anwendung nutzen zu können, muss der Patient lediglich eine AR-Brille aufsetzen. Damit werden ihm ergänzend zu dem, was er reell sieht, die virtuellen Inhalte ins Blickfeld eingespielt“, erklärt David Antony, der das Projekt auf Seiten der Informatik-Studierenden leitete. „Die Arbeit war unheimlich spannend“, sagt Antony. Denn noch ist der Umgang mit diesen Brillen auch für Informatik-Studierende kein Alltag. „Künftig werden diese Geräte immer kleiner, so dass sie irgendwann nur noch wie eine ganz normale Brille aussehen“, sagt er. Das, so meint auch Karsten Schwarz, wird der Moment sein, an dem diese Technik massenkompatibel und damit auch in der Medizin stärker nutzbar sein wird.
Auf ihren Prototypen sind die Informatikstudierenden sehr stolz. „Wir haben mehr als ein Jahr daran gearbeitet, fast immer unter Corona-Bedingungen, was zusätzliche Herausforderungen mit sich brachte“, so Antony. Durch die Pandemie war der Zugang zum Scidea Lab eingeschränkt. „Dadurch mussten wir vieles online erarbeiten und abstimmen.“
Der nun zur Verfügung stehende Prototyp ist für Karsten Schwarz jedoch nur ein erster Schritt. Das Ganze sei ein fortlaufender Prozess, denn nun müsse versucht werden, sowohl Patientinnen und Patienten als auch Physiotherapeutinnen und -therapeuten an die Möglichkeiten einer solchen technikbasierten Unterstützung der Therapie heranzuführen. Das Ziel: eine Demonstrator-Anlage, mit deren Hilfe man Fachkräften vor Ort zeigen kann, was in dieser Technik steckt. Das ist zwar noch Zukunftsmusik. Aber Karsten Schwarz ist sich heute schon sicher: „Das Potenzial ist riesig, für die Universität und die gesamte Region.“