Vergessene Zeugen der Zeit
„Die Aufnahmen haben wir im Keller der Universität gefunden – sie waren total eingestaubt, aber viel zu schade, um sie dort einfach vergammeln zu lassen“, erklärt Sabrina Jekal einer kleinen Besuchergruppe. „Die Fotos sind qualitativ hochwertig und äußerst detailreich. Sehen Sie, hier erkennt man sehr gut die Veränderungen: Diese Balken wurden entfernt und die Bemalung dort ist auch nicht mehr da.“ Die Besucher, ein Ehepaar mit seinen Enkeln, sind aus Dresden angereist, um den Merseburger Dom zu besichtigen und nutzen die Gelegenheit, auch die Ausstellung „Die Objektivierung des Auges – Aspekte fotografischer Dokumentation am Beispiel des Merseburger Doms“ anzusehen.
„Die Idee zu dieser Ausstellung entstand während des Seminars Fotografie mittelalterlicher Architektur und Skulptur im Wintersemester 2011/2012“, erzählt Sabrina Jekal. Die Studentin der Kunstgeschichte steht im hellen Saal des Europäischen Romanik Zentrums in Merseburg, hinter ihr läuft eine Diashow mit den Bildern des Kugelpanoramas vom Merseburger Dom. „Zum Abschluss des Seminars besprachen wir gemeinsam mit unserem Dozenten Professor Schenkluhn, wie man eine Ausstellung zu den behandelten Themen konzipieren könnte.“ Doch ein paar Teilnehmer des Seminars wollten es nicht bei theoretischen Ansätzen belassen – daher entschieden sich Christiane Heinevetter, Sabrina Jekal, Lisa Metziger, Alexandra Kitzing und Stefanie Tischer, die Idee einer Ausstellung tatsächlich in die Praxis umzusetzen.
Im Rahmen ihrer Nachforschungen für das Seminar stießen die fünf Studentinnen in den Schubfächern längst vergessener Schränke des Kunsthistorischen Instituts auf ungeahnte Schätze von historischem Wert. Die antikbraunen Schubladen – die mitunter klemmten, so lange wurden sie nicht mehr geöffnet – waren prall gefüllt mit Aufnahmen der Königlich Preußischen Messbildanstalt, des Dr. Franz Stoedtner-Archivs und des Prof. Heinrich Nickel-Archivs sowie des Bildarchivs Foto Marburg. Unzählige Fotografien aus verschiedenen Epochen zeugen von der Entwicklung der dokumentarischen Architekturfotografie.
Beeindruckt von dem umfangreichen Fundus, begannen die jungen Frauen im darauffolgenden Sommer mit der Planung der Ausstellung. Sie wollten so zumindest einen Teil der Werke aus ihrem verstaubten Dasein befreien und der Öffentlichkeit zugänglich machen. „Die Aufnahmen sollen die Entwicklung der Fotografie anhand der baulichen Veränderungen des Merseburger Doms zeigen“, erklärt Sabrina Jekal den aufmerksamen Besuchern. Ziel der Studentinnen ist es, dem Betrachter eine andere Seite der Architekturfotografie und ihrer handwerklicher Komponente zu zeigen, sodass dieser die Bedeutung für gegenwärtige Entwicklungen neu verstehen kann. Dazu wählten die fünf Kuratorinnen populäre und vergleichende Ansichten des Merseburger Doms aus, anhand derer man die baulichen Veränderungen erkennen kann.
Bei der Organisation ihrer ersten Ausstellung mussten die Kunsthistorikerinnen jedoch auch einige Herausforderungen meistern, wobei die Finanzierung die größte Hürde darstellte. Sie erfuhren am eigenen Leib, dass für Kultur oftmals kein Geld übrig ist, und so warben sie zusätzlich private Spenden ein. Sabrina berichtet auch von kleineren Problemen, die bei solch einem Projekt auftreten: „Als die Digitalisierung der Bilder endlich vollbracht war, mussten sie gerahmt werden. Da die Fotos aber nicht die passende Größe hatten, musste jedes Passepartout einzeln ausgemessen werden. Außerdem kamen die Rahmen erst einen Tag vor der Ausstellungseröffnung – wir haben ganz schön gezittert, ob wir alles rechtzeitig fertig kriegen würden.“
Fotografien architektonischer Bauten bestimmen seit jeher die kunsthistorische Forschungs- und Betrachtungsweise und prägen so unsere Anschauung von Epochen und Werken. Die fotografische Ablichtung wurde dabei stets auch zu wissenschaftlichen Zwecken eingesetzt. So unternahm Professor Heinrich Nickel, dessen Aufnahmen in der Ausstellung vertreten sind, Fotografie-Reisen, bei denen er Fotografien von Bauwerken für den Gebrauch an der Universität anfertigte. „Die Aufnahmen wurden zu dokumentarischen Zwecken gemacht, als Lehrmaterial für Studierende“, erläutert die Master-Studentin.
Doch die Schau ist nicht nur in mehrerlei Hinsicht für, sondern auch von Studenten gemacht. Ihre Macher wollten einmal selbst erfahren, wie man eine Ausstellung auf die Beine stellt. „Gerade im Fach Kunstgeschichte ist es wichtig, Erfahrungen für die Berufswelt zu sammelt“, betont Sabrina – und das ist ihnen durch die Ausstellung gelungen. „Es hat uns viel gebracht. Wir haben Kontakte zu Menschen geknüpft, deren Namen wir bis dahin nur aus Büchern kannten. Wir haben viel über Fundraising gelernt und wie man sich im Team organisiert.“ Während der letzten Monate haben die fünf jungen Frauen auch viele schöne Momente bei der Arbeit erlebt. „Es war toll, mit den Werken umzugehen. Und wir waren so stolz, als sie endlich alle mit Passepartouts gerahmt waren“, erzählt Sabrina und freudestrahlend fügt sie hinzu: „Dass wir sagen können, wir haben ganz allein eine Ausstellung zu Stande gebracht, das ist ein tolles Gefühl.“
Die Ausstellung ist noch bis zum 2. Juni 2013 jeweils mittwochs und donnerstags von 10 bis 17 Uhr, freitags von 14 bis 17 Uhr sowie samstags und sonntags von 11 bis 17 Uhr im Europäischen Romanik Zentrum in Merseburg zu sehen. Der Eintritt ist frei. Weitere Informationen sind unter www.romanik-zentrum.eu zu finden.