Verständnis gegen Burnout
Frau Wolgast, Sie erforschen am Institut für pädagogische Psychologie die soziale Perspektivübernahme. Was ist das?
Anett Wolgast: Sie wird als die kognitive Dimension der Empathie definiert, also umgangssprachlich das Verständnis für andere. Die soziale Perspektivübernahme wird in anderen Bereichen der Psychologie schon ziemlich lange erforscht. Unser Ziel ist es, uns genauer anzuschauen, welche Komponenten dieses Konzepts eigentlich für die pädagogischen Kontexte relevant sind. Das ist einmal die visuell-räumliche Perspektivübernahme. Sie haben vielleicht schon mal Vortragende an der Hochschule erlebt, die vor dem Beamerbild stehen und das gar nicht selbst bemerken. Wenn jemand länger im Bild steht, ist das mit negativen Emotionen bei den Zuhörenden verbunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die von ihm vermittelten Informationen im Langzeitgedächtnis landen, ist geringer, als wenn wir gerade positive Emotionen erleben. Daneben gibt es aber auch noch weitere Formen der Perspektivübernahme, etwa das situationsspezifische Eindenken. Wenn beispielsweise Kinder oder Jugendliche bestimmte Arbeitsschritte bei der Lösung von Aufgaben gehen und zu einem falschen Ergebnis kommen, will die Lehrperson wissen, wie sie darauf gekommen sind. Von sozialer Perspektivübernahme spricht man immer dann, wenn jemand versucht die Perspektive eines anderen Menschen zu übernehmen.
Sie verbessert also die Lehre?
Sie ist eine wichtige soziale Kompetenz von Lehrpersonen. Es wurden beispielsweise Zusammenhänge zwischen der Tendenz zur Perspektivübernahme und der Orientierung hin zu Studierenden gefunden. Ein wichtiger Punkt ist auch der Zusammenhang zwischen der kognitiven Dimension der Empathie und der affektiven, also der emotionalen Dimension. Zur emotionalen Dimension gehört das Mitfühlen oder Nachfühlen. Wenn in Medien oder auch in der Wissenschaft von Lehrpersonen gefordert wird, dass sie empathischer sein sollen, dann kann ich dazu nur sagen: Achtung! Das kann ziemlich gefährlich sein. Das konnte auch kürzlich eine Kollegin der MLU bei Lehramtsstudierenden zeigen: Je höher die Tendenz zum Mitfühlen oder Nachfühlen gegenüber Schülerinnen und Schülern ist, desto höher ist das negative Stresserleben. Und je höher die kognitive Dimension, also die soziale Perspektivübernahme, desto niedriger ist das Stresserleben oder es besteht überhaupt kein Zusammenhang zwischen der kognitiven Dimension und dem Stresserleben.
Das heißt es sind zwei ganz verschiedene Sachen, ob man rein vom Kopf her versteht, wie sich jemand fühlt, oder ob man mitfühlt?
Ja. Das ist auch verständlich. Wenn jemand traurig ist oder sich ärgert und man als Lehrperson diese Emotionen ständig miterlebt, ist das natürlich anstrengend. Verständnis im kognitiven Sinn führt hingegen einerseits dazu, dass sich die Person selbst schützen kann. Andererseits kann eine Lehrperson, die Verständnis für Schülerinnen und Schüler aufbringt, sozial angemessen reagieren und hat auch ein ganz anderes Gespür für die sozialen Prozesse in der Unterrichtssituation. Dann kann Disziplinproblemen eher vorgebeugt werden, der Unterricht kann flüssiger ablaufen. Diesen Zusammenhang finde ich unglaublich wichtig. Denn wenn wir uns zum Beispiel Tagungen zur Lehrerbildung anschauen, dann finden wir da vielleicht ein Symposium zum Burnout und ein Symposium zur Empathie. Dass das unter Umständen miteinander zusammenhängt, wird momentan noch gar nicht so in den Blick genommen.
Haben Sie oder andere schon erforscht, wie man dieses kognitive Verständnis lernen kann?
Leider bin ich mit der Forschung noch nicht so weit. Aber wir haben zumindest ein theoretisches Modell aufgestellt. Wir stützen uns dabei auf einen Beitrag von Tania Singer aus dem Max-Planck-Institut in Leipzig. Sie hat herausgefunden, dass die emotionalen Reaktionen relativ automatisch ablaufen, sie können ziemlich schnell erfolgen. Die kognitive Regulierung erfolgt erst ein bisschen verzögert. Aber man kann sie lernen. Und je öfter man beispielsweise in Fallanalysen oder in simulierten Unterrichtssituationen übt, eher zu verstehen als mitzufühlen, desto stärker wird soziale Perspektivübernahme automatisiert. Und erfolgt dann in realen Unterrichtssituationen sozusagen nebenbei.
Spielt soziale Perspektivübernahme auch zwischen Kindern und Jugendlichen eine Rolle?
Ja. Wir konnten zum Beispiel zeigen, dass Kinder mit mehr Leseerfahrung eher bereit sind, sich in andere Personen einzudenken oder hineinzuversetzen. Weil sie sich schon öfter in Romanfiguren hineinversetzt haben. Außerdem haben wir im vergangenen Jahr eine Studie mit mehr als 50 Schulen in Sachsen-Anhalt durchgeführt und über 1.000 Schülerinnen und Schüler hinsichtlich ihrer Bullying-Erfahrungen befragt, also Erfahrungen mit Schikanieren in der Klasse, sowohl als Täter als auch als Opfer. Im Zuge der Studie haben wir nicht nur deren visuell-räumliche Perspektivübernahme getestet. Wir haben mit Aussagen wie „Ich möchte Freunde besser verstehen, indem ich versuche, mir ihre Sichtweise vorzustellen“ oder „Ich glaube, dass es bei jeder Frage von Freunden zwei Seiten gibt und versuche beide zu betrachten“ auch ihre situationsübergreifende Tendenz zur sozialen Perspektivübernahme abgefragt. Bisherige Forschung hat gezeigt, dass Täter niedrige soziale Perspektivübernahme angeben, das zeigen unsere Erhebungsdaten auch.
Und wie geht die Forschung hier am Institut weiter?
Wir sind dabei, Daten zum Zusammenhang zwischen Cyberbullying-Erfahrungen bei Lehramtsstudierenden, sozialer Perspektivübernahme und dem Glauben an eine gerechte Welt zu erheben. Die Idee ist, dass der Gerechtigkeitsglaube und die Tendenz zur sozialen Perspektivübernahme schützende Faktoren sind. Also Ressourcen für Lehramtsstudierende, die vor Burnout schützen können.