„Wenn wir nicht versuchen, uns zu verstehen, machen wir uns das Leben zur Hölle“

13.04.2023 von Katrin Löwe in Varia
„Ost und West: zu ungleich, um sich zu verstehen?“ - so lautet der Titel einer Diskussionsrunde, die am 28. April auf der Leipziger Buchmesse mit Vertretern der Unis Halle, Jena und Leipzig am Stand des Universitätsbundes stattfindet. Unter ihnen ist Prof. Dr. Daniel Fulda, seit 2007 Literaturwissenschaftler an der MLU. Im Interview blickt er auf die bevorstehende Debatte und den aktuell heiß diskutierten Bestseller seines Leipziger Kollegen Prof. Dr. Dirk Oschmann.
Daniel Fulda ist seit 2007 Professor an der MLU.
Daniel Fulda ist seit 2007 Professor an der MLU. (Foto: Maike Glöckner)

Zunächst ganz allgemein gefragt: Was hat Sie dazu bewegt, sich in diese Diskussion zu begeben?
Daniel Fulda: Das Thema beschäftigt mich sowohl als Wissenschaftler als auch privat seit Jahren. Ich stamme aus dem Rheinland, bin aber seit 2005 an ostdeutschen Universitäten tätig. Die Unterschiede, die damals zwischen Osten und Westen in den Lebensverhältnissen und nach meinem Eindruck auch in der Mentalität bestanden, fand ich ziemlich groß. Ich habe sie als stärker empfunden, als ich sie aus der Presse kannte, und bin neugierig geworden. Woran liegt das? Welche Erfahrungen haben andere gemacht? Zudem, um auf den Titel der Veranstaltung zurückzukommen: Als Literaturwissenschaftler fühle ich mich besonders der Hermeneutik, also der Lehre vom Verstehen, verpflichtet. Mich interessiert also auch das Verstehen unter Menschen mit unterschiedlichen Herkünften und Standpunkten.

Neben Professor Dirk von Petersdorff aus Jena, der sich dem Thema literarisch widmet, ist Professor Dirk Oschmann aus Leipzig Ihr Diskussionspartner. Die Debatte steht also auch unter dem Zeichen seines erst im Februar dieses Jahres veröffentlichten Bestsellers „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“
… an dessen Entstehung ich einen gewissen Anteil hatte, weil ich Dirk Oschmann vor vier Jahren gebeten habe, am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung zum Umbruch von 1989/90 etwas aus seiner Perspektive eines damaligen Jenaer Studenten beizutragen.

Den Besuch in Halle schildert er auch im Buch selbst als einen der Anfänge für dessen Entstehung. Damals hat er schon die Verdrängung des ostdeutschen Nachwuchses in der Germanistik beklagt. 2022 hat sein Beitrag „Wie sich der Westen den Osten erfindet“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Aufsehen gesorgt. Wie sehen Sie jetzt das Buch?
Es gibt darin die harte, mit Daten untermauerte Argumentation, dass Ostdeutschland in gesellschaftlichen Führungspositionen deutlich unterrepräsentiert ist, das gilt zum Beispiel in der Wissenschaft, den Medien, der Wirtschaft, dem Rechtswesen. Dirk Oschmann weitet das dann aus und spricht allgemeiner von einer Geringschätzung des Ostens in der öffentlichen Debatte. Ich denke, mit dieser Diagnose hat er recht, auch wenn diese Geringschätzung einen langen historischen Vorlauf hat und es in ganz Europa ein Ansehensgefälle von West nach Ost gibt. Darüber hinaus ist das Buch eine Wutrede über eine generelle Benachteiligung Ostdeutschlands seit der Wiedervereinigung. Das scheint mir ein Thema zu sein, wo man genauer hinschauen und mehr abwägen und differenzieren muss. Dirk Oschmann nutzt das Bild vom Wald, den man vor lauter Bäumen – also der Differenzierung – nicht aus den Augen verlieren sollte. Auf 200 Seiten könnte man aber sowohl den Wald als auch die Bäume darstellen.

Sie stammen ja ursprünglich aus Westdeutschland, fühlt man sich da angegriffen?
Ich würde mich nicht gern auf den Westdeutschen festlegen lassen. Man wechselt seine regionale Zugehörigkeit zwar nicht mit dem Wohnungswechsel. Aber in meinem Fall: Nach 17/18 Jahren in Ostdeutschland findet auch eine Durchwebung statt. Vier meiner Kinder sind in Halle geboren. Leider wird der Westen im Buch genauso klischeehaft gezeichnet, wie Dirk Oschmann es der Berichterstattung der westdeutsch geprägten Medien über den Osten vorwirft. In umgekehrter Blickrichtung ist das Pauschalisieren aber genauso falsch.

Das klingt insgesamt so, als würden Sie sich in der Podiumsdiskussion nicht gerade gegenseitig auf die Schultern klopfen. Wie gut kennen Sie sich eigentlich?
Persönlich und wissenschaftlich schätze ich Professor Oschmann sehr. Wenn man diese gegenseitige Anerkennung hat, fällt die Debatte um strittige Punkte leichter. Vom hermeneutischen Standpunkt aus gilt zudem generell: Man darf sich dem Verstehen des anderen nicht verweigern. Wenn wir nicht versuchen, uns zu verstehen, machen wir uns sowohl das eigene Leben als auch das der anderen zur Hölle.

Die MLU auf der Leipziger Buchmesse

Die Universität Halle beteiligt sich gemeinsam mit den Universitäten Leipzig und Jena im Rahmen des Universitätsbundes Halle-Jena-Leipzig an der diesjährigen Buchmesse, die vom 27. bis 30. April 2023 in der Leipziger Messe stattfindet. Der Standort des Unibundes: Halle 2 C301/D300. Die MLU ist neben den Buchpräsentationen an folgenden Veranstaltungen im „Forum Unibund“ beteiligt:

Das komplette Programm des Unibundes ist hier zu finden: Unibund auf der Leipziger Buchmesse

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