Wie der Harz jodelt
Fremde, exotische und kleine Völker sowie deren Bräuche stehen häufig im Zentrum ethnologischer Forschung. Auch Musikethnologen begeben sich oft in ferne Länder, um dort den Klang seltener Instrumente und Gesänge einzufangen und zu erforschen. Die Musikwissenschaftlerin Helen Hahmann muss von Halle aus nur etwas mehr als eine Stunde mit dem Auto fahren, um in ihr Forschungsgebiet zu gelangen: Seit 2008 erforscht sie den Harz und dessen musikalische wie kulturelle Tradition. Hier wurde Anfang der 1930er Jahre mit dem Jodeln begonnen. Eine Dozentin hatte Hahmann während ihres Studiums in Halle auf die Tradition der Jodelwettstreite im Harz aufmerksam gemacht. „Mich hat interessiert, wie sich die Leute im Harz an das Jodeln erinnern und wie sie von der Geschichte der Wettstreite erzählen“, erinnert sie sich an die Anfänge zu ihrem Dissertationsprojekt.
„Obwohl sich viele regionale Historiker schon seit langem mit dem Harzer Brauchtum beschäftigt haben und auch heute noch beschäftigen“, so Hahmann, „bleibt das Wissen darüber häufig auf regionaler Ebene.“ Der Harz sei, musikethnologisch gesehen, bisher noch relativ wenig erforscht. Auf über 200 Seiten ist die Forscherin der Geschichte des Jodelns im Harz und dessen speziellen Eigenschaften nun nachgegangen. „Bekannt ist, dass das Jodeln ein Mittel zur Kommunikation über weite Distanzen in den Bergen war. Im Harz sollen sich zum Beispiel Holzfuhrleute mit Rufen verständigt haben, die Ähnlichkeit mit Jodlern gehabt haben könnten“, erklärt sie. Außerdem seien im Harz bereits Ende des 19. Jahrhunderts Heimatlieder populär gewesen, die einen Jodler enthielten. Über den genauen Ursprung, wie die Gesangstechnik in den Harz und seine Heimatlieder importiert wurde, gibt es verschiedene Geschichten. „Wahrscheinlich ist, dass die Verstetigung der Tradition auf einzelne Personen zurückzuführen ist“, sagt Hahmann. Karl von Hoff aus Ilsenburg gilt als einer der wichtigsten Wegbereiter, von ihm selbst stammt auch eine der ersten, noch erhaltenen Tonaufnahmen eines Harzer Jodlers von 1931.
Auch zu DDR-Zeiten wurde im Harz gejodelt. „Durch die Erprobung des Konzepts der so genannten Volkskunst wurde der musikalische Anspruch sogar immer größer und die einzelnen Jodler immer versierter.“ So experimentierte man zum Beispiel viel mit mehrstimmigen und eigens komponierten Liedern. „Direkt nach der Wende starteten Jodler-Gruppen aus den neuen und alten Bundesländern den Versuch, gemeinsame Wettstreite auszurichten.“ Dabei stellte sich heraus, dass es im Harz eine ganze Reihe an regionalen Gesangs- und Jodelstilen gibt.
Und trotzdem kommt Hahmann in ihrer Arbeit zu der Erkenntnis: „Es gibt eine harztypische Art des Jodelns.“ Typisch für einen Harzer Jodler sei allgemein die Schnelligkeit, mit der zwischen Brust- und Kopfstimme gewechselt werde. Auch der Variantenreichtum der Melodien und Intervalle sei etwas Besonderes. „Beim Jodeln handelt es sich um eine stimmakrobatische Fertigkeit, für die man ganz schön üben muss“, fasst die Musikethnologin zusammen. Dazu komme der Liedtext, der sich fast immer mit dem Harz auseinandersetzt. Und trotzdem, das weiß die Ethnologin aus ihren Gesprächen mit Jodelgruppenleitern und -lehrern, gibt es je nach Region und sogar Person eine Vielzahl an Stilen, die sich teilweise stark voneinander unterscheiden. Besonders gut könne man das in Clausthal-Zellerfeld und Altenbrak beobachten: In beiden Orten finden seit über 60 Jahren jährlich Jodelwettstreite statt. „Diese Wettstreite sind so etwas wie lebende Archive, weil sich hier ganz verschiedene Regionen aus dem Harz begegnen und miteinander singen.“
- Ellen Bredow beim Jodelwettstreit in Clausthal-Zellerfeld 2008
Den Wettkampfgedanken sieht die Wissenschaftlerin kritisch: Schließlich sei Jodeln Teil der eigenen Kultur und der eigenen Identität – wie könne man das objektiv bewerten? Das Schweizer Modell der Jodelwettstreite gefalle ihr da besser: „Dort werden bei Wettstreiten zwar auch Noten vergeben, am Ende erhält aber jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin ein Jodelgutachten mit Tipps und Hinweisen.“
Im Harz wird auch heute noch viel gejodelt und auch Nachwuchsarbeit betrieben: In Kinder- und Jugendgruppen üben und probieren sich angehende Jodler im gemeinsamen Singen. Mit steigendem Alter der Kinder würde die Zahl der aktiven Jodler aber immer weiter abnehmen. Viele der mindestens 200 aktiven Jodler sind der Meinung, man müsse gegen diesen Schwund ankämpfen. Schließlich seien Sitten und Bräuche, wozu sich das Jodeln zählen lässt, ein wichtiger Bestandteil der eigenen Kultur, die man selbst erleben und mitgestalten kann. Deshalb spricht Hahmann vom Jodeln auch gerne als partizipative Musik: „Hier geht es vielleicht mehr ums Machen als ums Hören.“