Wo die Blätter ewig blühen
Gepresst, getrocknet und in Mappen gebündelt lagern die Pflanzen in den meterhohen Schränken der zwei Sammlungsräume. „Die Bögen sehen zum Teil noch so aus, wie Schlechtendal sie 1866 hinterlassen hat“, erzählt Präparatorin Denise Marx. Diederich Franz Leonhard von Schlechtendal war von 1833 bis 1866 Direktor des Botanischen Gartens. Ihm verdankt die Martin-Luther-Universität den Grundstock ihres Herbariums.
Seit einem Jahr klebt oder näht Marx die alten Pflanzen behutsam auf neue A3-Bögen, entziffert handgeschriebene Etiketten und bringt neue an. Herbarkustos Professor Uwe Braun recherchiert indes, ob es sich bei der Pflanze um einen Typus handelt. Diese sind besonders wertvoll. „Typen sind sozusagen die Urbelege für Pflanzen“, erläutert er. „Mit dem Typus wird eine Pflanzenart das erste Mal beschrieben.“ Wer diese Pflanzenart heute genauer analysieren will, muss stets auf das Typusexemplar zurückgreifen. Jedes Jahr reisen deshalb rund 2000 Pflanzen aus Halle zu Forschungszwecken rund um den Globus.
Kustos Uwe Braun schätzt, dass das Herbarium rund 10.000 bis 12.000 solcher Typen enthält. Für ihn ist der Erhalt, die Pflege und Erweiterung des Herbariums zur Lebensaufgabe geworden. „Das war für mich schon als Student ein Traumjob“, sagt er. Seit 20 Jahren ist er der wissenschaftliche Leiter der Sammlung.
Auch die Geschichte der Sammlung habe ihn schon damals interessiert. „Dafür muss man schon eine Ader haben.“ Mehr als drei Viertel der halleschen Sammlung gelten zurzeit noch als unbearbeitet. Die Pflanzen liegen zum Teil lose auf den Bögen und sind noch nicht in einer Onlinedatenbank erfasst. Seit vier Jahren wird die Digitalisierung der Typen von der amerikanischen A.-W.-Mellon-Stiftung mit über 300.000 Euro finanziert. Das Projekt ist Teil der „Global Plant Initiative“, in der Botaniker aus 47 Ländern an der Erstellung einer gemeinsamen Online-Datenbank arbeiten.
Das Herbarium wächst bis heute. Denn von ihren Reisen bringen hallesche Botaniker oft Pflanzen mit. Ob es sich bei den Funden um noch unentdeckte Pflanzenarten handelt, muss jeweils in aufwändiger Recherche überprüft werden. Irgendwo in der Fachliteratur der letzten 200 Jahre könnte die Art schließlich schon einmal beschrieben worden sein. Die Mühe lohnt: Wenn es sich um eine neue Art handelt, wird der Typus nicht nur präpariert und im Herbarium hinterlegt.
Der Beschreiber einer neuen Art entscheidet auch über ihren (lateinischen) Namen. Pilzforscher Uwe Braun hat so bereits weit mehr als 100 neue Pilzarten getauft und beschrieben. Botaniker leiten den Namen oft vom äußeren Erscheinungsbild einer Pflanze ab. „Man kann sie aber auch nach Kollegen benennen, die man ehren möchte.“ Das hat der Professor für Pilzkunde zum Beispiel mit der „Erysiphe werneri“ getan. Diese Art der Mehltaupilze heißt nach Brauns Amtsvorgänger, Dr. Klaus Werner.
Alle Pflanzen, die neu in die Sammlung aufgenommen werden sollen, werden zunächst fest zwischen die Holzplatten einer alten Pflanzenpresse geklemmt und getrocknet. Zum Schutz vor Insekten und Schimmelpilzen wird das Material zudem bei minus 20 Grad Celsius im Gefrierschrank behandelt. Anschließend zieht Präparatorin Denise Marx jedes Exemplar auf einen A3-Bogen auf. Den größten Stresstest haben die Pflanzen zu diesem Zeitpunkt schon längst hinter sich: Den Transport von ihrem Fundort in der Natur bis zum Herbarium.
Der konnte zu Humboldts Zeiten Jahre dauern. Bei feuchtem Wetter drohten empfindliche Exemplare zu verderben. Einige wurden deshalb als Samen mitgenommen und erst in Deutschland kultiviert. „Manchen der älteren Pflanzen sieht man ihre Strapazen an“, sagt Uwe Braun. „Aber ich habe die größte Hochachtung vor denen, die damals unter sehr schwierigen Bedingungen durch Südamerika gekraxelt sind und es auch noch geschafft haben, Pflanzen unbeschadet zu transportieren.“
Die beschwerlichen Umstände, unter denen Forschungsreisende vor zweihundert Jahren Pflanzen sammelten, sind in Berichten eindrucksvoll dokumentiert. Alexander von Humboldt, der von 1799 bis 1804 gemeinsam mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland auf seiner ersten Südamerika-Expedition vom Orinoko zum Amazonas reiste, schrieb darüber in seinen „Autobiographischen Bekenntnissen“: „Vier Monate hindurch schliefen wir in Wäldern, umgeben von Krokodilen, Boas und Tigern (die hier selbst Kanus anfallen), nichts genießend als Reis, Ameisen, Maniok, Pisang, Orinocowasser und bisweilen Affen [...] an Händen und Gesicht von Moskitostichen geschwollen […] man kann die Feder nicht ruhig halten, so wütend schmerzt das Gift dieser Insekten.“
In Südamerika beobachtet Humboldt die Sterne, kartographiert Flüsse und Berge, besteigt Vulkane, untersucht Gestein, zeichnet Tiere und sammelt Pflanzen. Zurück in Europa bearbeitete Carl-Ludwig Willdenow, Humboldts Freund und botanischer Lehrer, die Pflanzenfunde. Willdenow, der in Halle studiert hatte und hier auch promoviert wurde, war Direktor des Botanischen Gartens der Universität Berlin. Nach Halle gelangten die Humboldtschen Exemplare aber nicht über ihn, sondern über Diederich Schlechtendal. Dieser erweiterte den halleschen Bestand mit Duplikaten aus dem Berliner Herbarium. Die Dubletten wurden damals aus überschüssigem Material der Originalsammlung angefertigt und gewannen später an Wert. „Einige davon sind deutschlandweit nur noch in Halle erhalten, weil ein großer Teil des Berliner Bestands im zweiten Weltkrieg verloren ging“, erzählt Braun.
Zu den wertvollen historischen Stücken der halleschen Sammlung gehören auch Exemplare, die der hallesche Botaniker Dr. Gerhard Kerstan auf der deutschen Hindukusch-Expedition 1935 sammelte. Sie sind aus Gebieten im heutigen Afghanistan und Pakistan, die Botanikern nicht mehr zugänglich sind. Flechten nahm man dort teils sogar mitsamt dem Gestein, auf dem sie wuchsen, nach Deutschland mit.
„Alle, die zur Flora von Zentralasien forschen, kommen früher oder später nach Halle“, sagt Uwe Braun nicht ohne Stolz. Denn der zentralasiatische Teil des Herbariums ist besonders umfangreich. Auch durch ihre traditionell sehr guten Verbindungen in die Mongolei verfügt die MLU mit 10.500 Exemplaren über die drittgrößte Sammlung mongolischer Pflanzen weltweit. Sie ist in einem eigenen Raum des Herbariums untergebracht.
Seit Oktober 2012 wird diese Spezialsammlung gescannt und über eine Datenbank online zugänglich gemacht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das Projekt über zwei Jahre mit 100.000 Euro.