Zentralasien – Schauplatz der Weltgeschichte

28.06.2014 von Margarete Wein in Rezension, Wissenschaft
Ältere Semester kennen sie noch, die schwarzen Taschenbücher der in den 1960er Jahren weitverbreitete Fischer Weltgeschichte. Von diesem „Vorgängerwerk“ sagen die Herausgeber der neuen Edition, es habe zeigen wollen, „wie die Menschheit in ihrer Geschichte zum Selbstbewusstsein erwacht“. Zugleich konstatieren sie: „Die Geschichtswissenschaft ist seither zurückhaltender geworden“; die Neue Fischer Weltgeschichte (NFWG) sähe ihren Gegenstand nicht mehr „als einlinigen Fortschrittsprozess, sondern als polyphones Geschehen“.
"Zentralasien" ist der zehnte Band in der Reihe "Neue Fischer Weltgeschichte"
"Zentralasien" ist der zehnte Band in der Reihe "Neue Fischer Weltgeschichte"

Zwar noch immer vom Eurozentrismus geprägt, strebe das neue Kompendium doch (mittels konsequent auf globale Sicht zielende, systematische Darstellung der einzelnen Räume durch international anerkannte Experten) zugleich dessen Überwindung an. Wie die alte Fischer Weltgeschichte will die neue – als erste umfassende Universalgeschichte des 21. Jahrhunderts – für lange Zeit ein Standardwerk sein.

Im Jahr 2012 erschienen die ersten drei Bände (von 21 geplanten) der NFWG: Band 5 „Europa in der frühen Neuzeit“ (Robert v. Friedeburg, Rotterdam), Band 11 „Südasien“ (David Arnold, London) und eben Band 10 „Zentralasien“ von Jürgen Paul. Der Autor ist seit 1995 Professor für Islamwissenschaft am Orientalischen Institut der Martin-Luther-Universität, seit 2006 Sprecher des Forschungsnetzwerks „Graduate School Asia and Africa in World Reference Systems“, das u. a. mit dem Max Planck Institut für ethnologische Forschung Halle kooperiert und von der Volkswagen-Stiftung mit 500 000 Euro unterstützt wurde. Pauls Hauptinteresse gilt der Geschichte des islamischen Zentralasien in Mittelalter und Frühneuzeit.

Zentralasien, was ist das? Keinesfalls der Name eines Raumes mit natürlichen Grenzen – was die Definition erschwert und zu abweichenden Ergebnissen führt. Paul rechnet Afghanistan, die Mongolei, Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan dazu, auch Teile Südsibiriens und Nordchinas, Tibet nicht. Die Herausgeber der NFWG – Jörg Fisch (Zürich), Wilfried Nippel (Berlin) und Wolfgang Schwentker (Osaka) – apostrophierten diese Region als „historischen Interaktionsraum par excellence“.

Dem Grundprinzip der NFWG folgend, dominiert in den chronologisch aufgebauten Kapiteln (Frühe Kulturen bis ca. 750 n. Chr., Von 750 bis zur mongolischen Eroberung, Das mongolische Zeitalter [Anfang 13. Jahrhundert bis ca. 1750], Zentralasien unter fremder Herrschaft [Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1991], Von 1991 bis zur Gegenwart) die Gliederung unter den Aspekten Herrschaft und Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Religion, Kunst und Literatur. Im Wechselspiel mit benachbarten Kulturräumen, ost-westlichen und nordsüdlichen Handelswegen kam Zentralasien von der Antike bis zur frühen Neuzeit besondere Bedeutung zu.

Das spannungsreiche Panorama – in dem Nomaden, Ackerbauern, Steppenkrieger, Sänger und Seidenhändler agierten, das von Skythen, Hunnen, Arabern, Juden, Mongolen, Usbeken, Kasachen, Kirgisen, Tadschiken, Turkmenen, Afghanen, Chinesen und Russen bevölkert war resp. ist, über die in legendären Reichen und teils gewaltsam gegründeten Staaten Khane, Kaiser, Kolonialisten und Sowjetfunktionäre herrschten, die Region, in der die Weltreligionen der Juden, Christen, Moslems und Buddhisten in wechselnder Intensität ihr Wirken entfalteten – wird neben Fachleuten, Schülern und Studenten sicher auch viele Laien in den Bann ziehen.

Die Fülle einzelner Bilder, vom „Goldenen Mann“ aus der Skythenzeit über Dschingis-Khans Eroberungszüge, das Leben der Kryptojuden in Buchara, die Bedeutung der Uiguren für das mongolische Reich, Mädchen-Schulen der Sufimeisterinnen, Folgen des Personenkults in den vormals asiatischen „Sowjetrepubliken“ bis zu einem gedrängten Abriss der katastrophalen Entwicklung Afghanistans in den letzten Jahrzehnten, fügt sich zu einem Ganzen, das am Ende abgerundet wird durch weiterführende Literaturhinweise, Personen- und Ortsregister, eine Zeittafel sowie ein Glossar, das die verwendeten fremdsprachlichen Fachbegriffe erklärt.

► Jürgen Paul: Zentralasien (Neue Fischer Weltgeschichte, Band 10), Frankfurt am Main 2012, 576 S., 38 Abbildungen und Karten (s/w), 29,99 Euro, ISBN 978-3-10-010840-1

Schlagwörter

Orientalistik

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