Nährboden für exzellente Bildungsforschung
Warum hat man 1994 gedacht, dass die Universität ein „Zentrum für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung“ benötigt?
Rolf-Torsten Kramer: Die Gründung des Zentrums fiel in eine Epoche, in der eine ganze Reihe von Zentren an der Universität entstanden ist. Die Idee war es, Grenzgängerarbeit in der Wissenschaft stärker zu unterstützen und als Profilmerkmal der Universität zu entwickeln – im Grunde geht es also um interdisziplinäre Forschung. Da war die Bindung an eine Fakultät eher ein bisschen hinderlich. Dazu kommt noch die Sonderstellung, die das Zentrum zu Beginn innehatte.
Was meinen Sie damit?
Bis 1993 gab es in Halle noch eine weitere Hochschule: die Pädagogische Hochschule Halle-Köthen. Diese sollte mit der MLU fusioniert werden. Und hier sind Strukturen und Personal zusammengekommen. Die PH hatte die Idee eines Zentrums für Schulforschung und vor allem für Lehrerbildung. Seitens der MLU gab es diese Idee der interdisziplinären Forschungszentren. Daraus entstand eine Doppelausrichtung: ein Forschungszentrum und ein Koordinierungszentrum für die Lehrer*innenbildung an der Universität. Dieser Hybridcharakter war Mitte der 1990er Jahre ein nationaler Trend, das hallesche Zentrum hatte gewissermaßen Pilotcharakter.
Mit welchen Themen ist das Zentrum in der Forschung gestartet?
Die Themen hatten eine historische Note. Schließlich war der Prozess der Wiedervereinigung, die große Transformation der deutschen Gesellschaft, längst noch nicht abgeschlossen. Dieser Prozess hat eben nicht nur die Hochschule betroffen, sondern vielleicht noch stärker die Schule und den Unterricht. Gleich nach der Gründung des Zentrums wurden deshalb bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft vier Anträge eingereicht, von denen drei bewilligt wurden: Ein Projekt befasste sich mit den Veränderungen der Schule, ein weiteres mit Lehrkräften und der Frage, ob es an Schulen einen Mentalitätswandel mit gleichem Personal gibt, und das dritte Projekt fragte nach der Schülerbeteiligung im Unterricht.
Wodurch zeichnete sich die Forschung aus?
Schon damals war die Forschung vor allem qualitativ-interpretativ ausgerichtet: Im Vergleich zu quantitativ-statistischen Arbeiten mit großen Stichproben hat unsere Forschung kleinere Fallzahlen. Das macht die Verallgemeinerbarkeit etwas schwieriger, aber der Zugang liefert viele Erkenntnisse über die Herausforderungen, die Anforderungen, bestimmte Bewältigungsformen. Mit denen kann man weiterarbeiten.
Wie ging es weiter?
Am Anfang gab es eine enge Zusammenarbeit mit der Landesregierung und den Ministerien. Da gab es hin und wieder Aufträge, beispielsweise Sekundarschulen in den Blick zu nehmen oder zu fragen, wie Schülerinnen und Schüler Schule verstehen. Das waren kleinere Projekte, die noch eng an Schule, an Unterricht und den Beruf als Lehrer*in gebunden waren. Später wurde dieser Fokus geweitet, sodass Schule im Zusammenhang mit lebensweltlichen Phänomenen, also zum Beispiel mit Familie oder Peer-Beziehungen zu Gleichaltrigen betrachtet wurde. Das führte zu einer Spannung zwischen dem Bereich für die Lehrerbildungskoordination und dem als Forschungszentrum.
Diese Spannung führte zu einer Trennung: 2006 wurde an der Universität das Zentrum für Schul- und Bildungsforschung gegründet, 2007 folgte das Zentrum für Lehrerbildung ...
Genau. Das Zentrum hat sich als ZSB neu profiliert, die Satzung geändert und sich als reines Forschungszentrum aufgestellt, das auch nicht nur auf Schule blickt. Stattdessen nimmt es das Thema Bildung über verschiedene Lebensphasen und Bereiche hinweg in den Blick, aber immer noch mit qualitativ-interpretativen Verfahren.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Besonders sind vor allem unsere großen Verbundprojekte. Wir haben zum Beispiel aktuell das Projekt „NeOBi“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit gut zweieinhalb Millionen Euro finanziert wird. Darin geht es darum, sich anzuschauen, wie in bestimmten, oftmals als prekär wahrgenommenen Sozialräumen Möglichkeiten oder Barrieren der Teilhabe von Kindern aussehen und welche Rolle dabei die Zusammenarbeit von pädagogischen Einrichtungen in der Bildungslandschaft spielt. Es geht zum Beispiel um Übergänge im Bildungssystem: von der Kita zur Grundschule, zu weiterführenden Schulen, Förderschulen, zum Hort. Mit dem Projekt wird auch die Erwartung verbunden, dass aus ihm bestimmte Impulse auch für die Gestaltung von sozialraumbezogenen Bildungsangeboten gezogen werden können.
Die Ergebnisse der Forschungsprojekte am ZSB werden auch in einer eigenen Buchreihe publiziert. Mittlerweile umfasst diese mehr als 90 Titel. Das ist auch für 30 Jahre eine ganz ordentliche Leistung ...
In der Reihe kommt eine Menge zusammen: Sie beinhaltet neben den Ergebnissen der Projekte Sammelbände mit Beiträgen von renommierten Kolleginnen und Kollegen, die im Rahmen der „Halleschen Abendgespräche“ bei uns Vorträge gehalten haben. Und es gibt noch einen dritten Bereich, der vielleicht am wichtigsten ist: die wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten der Mitarbeitenden in den Projekten im ZSB, also Promotionen und Habilitationen. Über die 30 Jahre sind das inzwischen mehr als 60 Personen. Ein großer Teil davon besetzt mittlerweile auch Professuren an Hochschulen und Universitäten in Deutschland. Das alles ist Ausdruck der großen wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit des Zentrums.
Sie hatten bereits die Verbundprojekte angesprochen. Warum sind diese besonders?
Es handelt sich hier um große Vorhaben, die sich vom Fördervolumen und der Anzahl an Mitarbeitenden deutlich absetzen. Das erste Verbundprojekt war die DFG-Forschungsgruppe „Mechanismen der Elitebildung im deutschen Bildungssystem“, die 2011 startete und das ZSB für ein Jahrzehnt geprägt hat. Aktuell haben wir neben dem bereits erwähnten „NeOBi“-Projekt noch ein weiteres Verbundvorhaben: das DFG-Graduiertenkolleg „INTERFACH“, das sich mit dem Thema Fachlichkeit und Interaktion im Grundschulunterricht in Deutsch und Mathematik befasst. Hier gibt es eine starke Zusammenarbeit von Forschenden mit erziehungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Perspektiven.
Welche Ziele verfolgt das ZSB für die nächsten Jahre?
Unsere Forschung ist kein Planbetrieb. Auch wenn Sie mit mir als Geschäftsführendem Direktor sprechen, halte ich wenig davon zu sagen: In den nächsten zwei Jahren wollen wir einen weiteren großen Verbund zu diesem oder jenem Thema haben. Die Grundidee ist eigentlich, dass die Initiativen aus einer Kerngruppe heraus kommen und dann überlegt wird, ob das Thema in einer größeren Runde trägt und welche Personen man involvieren kann und möchte. Das lässt sich nicht planerisch am Reißbrett entwickeln.
Wozu braucht man das ZSB heute und in Zukunft?
Wir befinden uns seit 2019 in einer Umbruchphase, die Trägerstrukturen und die Finanzierung haben sich geändert. Wir überlegen auch, wie wir in die neuen Profillinien der Universität passen. Es ist dem ZSB über einen sehr langen Zeitraum gelungen, den Nährboden für große Verbundprojekte bereitzustellen sowie weitere Forschungsprojekte anzuziehen und diesen einen interdisziplinären Austauschraum zu bieten. Darin würde ich immer noch das Alleinstellungsmerkmal des ZSB sehen. Aktuell erleben wir auch eine gewisse Welle von Anfragen verschiedener Forschender, die ihre neu eingeworbenen Drittmittelprojekte am ZSB ansiedeln möchten.
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Zum ZSB: https://www.zsb.uni-halle.de/