„Zukunft ist ein blindes Spiel“ …
Die Anthologie „Kein falsches Bild“ ist ein literarischer Spiegel der letzten zwei Jahrhunderte in Halle. Hineingeblickt haben zunächst die Interessenten der Lesereihe „Halle liest“ im Jahr 2011; inzwischen sind die von Ingeborg von Lips ausgewählten Texte für jedermann da. Man kann das Buch aufschlagen, wo man will – und liest sich immer fest.
Die Auswahl lässt in den Kapiteln „Biografisches und Erinnerungen“, „Romane und Erzählungen“, „Publizistisches“ und „Lyrisches und Szenisches“ die verschiedensten Schicksale auferstehen. So wird bei Ludwig Börne und Henriette Herz, ebenso in den Titel gebenden Versen des deutsch-polnischen Lyrikers Isaschar Falkensohn Behr, bei Heinrich Heine und Adolf Bernhard Marx sowie in den Szenen von Aaron Halle-Wolfssohn, die Zeit um 1800 und danach lebendig. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts scheint in Texten von Anselm(a) Heine auf.
Das 20. Jahrhundert – mit seinen Hoffnungen und Enttäuschungen, Ängsten, Schrecken und Verbrechen – stellen uns Kurt Bauchwitz, Emil Fackenheim (dessen Text in der englischen Originalversion aufgenommen ist), Martin Mosche Feuchtwanger, Edgar Hilsenrath, Alfred Kerr, die beiden Cousins Egon Erwin (den „rasenden Reporter“) und Guido (den Juristen) Kisch, Anneliese Landau, Hans Natonek, Simon Singer und Alfred Wolfenstein vor Augen.
Emil Ludwig Fackenheim (geboren 1916 in Halle, gestorben 2003 in Jerusalem) – Student in Halle, bei Leo Baeck in Berlin, Rabbiner und Philosophieprofessor in Toronto und Jerusalem – erhielt im Mai 1999 die Ehrendoktorwürde der Martin-Luther-Universität (siehe: Universitätszeitung scientia halensis, Juni 1999, Seite 3). Hier werden Auszüge aus seiner 2007 posthum erschienenen Autobiografie vorgestellt.
Von einem, der 20 Jahre lang Halles Literaturszene prägte, stammen die (erst posthum 1987 in München erschienenen) Erinnerungen unter dem einprägsamen Titel „Zukunft ist ein blindes Spiel“. Martin Feuchtwanger, jüngerer Bruder des Romanciers, lebte von 1910 bis 1933 in Halle. Nach einem abgebrochenen Studium schrieb er zuerst für die Saalezeitung. Nach der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft gründete er bald den erfolgreichen „Fünf-Türme-Verlag“ und war damals sicher fast allen kunst- und literaturinteressierten Hallensern bekannt. Doch die steile Karriere des Journalisten endete abrupt.
1933 schrieb er: „Mein Korrespondenzverlag [...] machte mir schon lange kein Vergnügen mehr. Jede Arbeit in Deutschland war unerquicklich geworden. [...] Es war mir unergründlich, wie Juden immer noch in Lokale, in Sommerfrische, zu Vergnügungen, in Theater, Kinos gehen konnten. Ich hielt mich in meiner Wohnung auf, in meinem Garten, in meinem Verlagsbüro. Ich betrat keinen Laden mehr, kein Friseurgeschäft, kein Café, kein Theater, kein Restaurant, kein Kino, keine Badeanstalt, keine Eisenbahn, keinen Omnibus, keine elektrische Bahn. Ein großer Teil des Publikums ekelte sich vor mir, man durfte mich ungestraft verhöhnen, ich selbst ekelte mich vor diesen Dummköpfen, Lumpen, Gesinnungslosen, die einem Lügner aufs Wort glaubten.“ Über die Schweiz und Prag floh er nach Palästina, wo er lebenslang blieb.
► Ingeborg von Lips (Hg.): Kein falsches Bild. Deutsch-jüdische Literatur und eine Universitätsstadt, Halle 2011, 240 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 9,95 Euro, ISBN 978-3-89812-806-3