Zwischen Darwin und Marx

03.07.2013 von Petra Hoffmann in Forschung, Rezension, Wissenschaft
Anlässlich des 150. Geburtstags der SPD im Mai 2013 hörte ich einen Radiokommentator sagen, dass die SPD zwar große Verdienste habe, aber auch etwas aus der Zeit gefallen sei. Warum das so sei, sagte der Kommentator nicht, aber zum wiederholten Mal ärgerte ich mich, wie schnell etwas als „aus der Zeit gefallen“ angesehen wird, ohne dabei die unterschiedlichen Betrachtungsweisen zu berücksichtigen und den historischen Hintergrund mit zu bedenken.

Umso mehr erfreue ich mich am aktuellen Buch von Richard Saage, Professor i. R. für Politikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaft zu Leipzig. Saage analysiert darin die verschiedenen Formen des rechten und linken Darwinismus und die sozialdemokratische Auseinandersetzung damit Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Über den dabei von ihm gewählten Weg schreibt er: „Die Aufgabe des Historikers politischer Ideen besteht dann darin, sie im Durchgang durch die Quellen behutsam freizulegen und zu einer empirienahen Struktur zusammenzufügen.“

Als Saage Im Quellenstudium bereits weit fortgeschritten war, wurde er zu seinem Buch zusätzlich durch Thilo Sarrazins Buch (Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010) und die dadurch ausgelösten Diskussionen angeregt. „Diese Tendenz, soziale Fragen in biologische Muster zu übersetzen und sich gleichzeitig zur Sozialdemokratie zu bekennen, wirft die Frage nach dem Menschenbild der beiden ältesten demokratischen Parteien in Deutschland und Österreich auf“, erklärt er sein Anliegen.

Ausgehend von den 1859 erschienenen Veröffentlichungen von Charles Robert Darwin „Die Entstehung der Arten“ und Karl Marx „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ beschäftigt sich der Politikwissenschaftler mit der Rezeption von Darwins Deszendenztheorie (Abstammungslehre) und damit, ob diese Gegenstand des sozialdemokratischen Diskurses war. Beim Studium zahlreicher Primärquellen im Umkreis des sozialdemokratischen Lagers in den Kaiserreichen und den Ersten Republiken in Deutschland und Österreich, darunter Texte von August Bebel, Karl Kautsky, Franz Mehring und Otto Bauer, analysiert er die damaligen Debatten und entdeckt dabei, dass es außer dem „rechten“ Darwinismus auch einen „linken“, lange Zeit vergessenen Darwinismus gegeben hat.

In der von ihm aufgezeigten Auseinandersetzung sozialdemokratischer Autoren mit dem Sozialdarwinismus von rechts (Ernst Heckel, Herbert Spencer u. a.) geht es ihm insbesondere um die Grenzziehung zwischen der biologischen und der sozialwissenschaftlichen Deutungshoheit von Darwins Evolutionstheorie und Marx’ Historischem Materialismus und ganz praktisch auch um den Eurozentrismus des Darwinismus von rechts sowie das hegemoniale Erstarken der Rassentheorien nach dem Ersten Weltkrieg. Beim Lesen fällt auf, dass sich alle Akteure der Darwinismusdebatte mit der Übertragbarkeit der darwinschen Naturgesetze auf die Gesellschaft beschäftigt haben. Vor allem Kautsky betonte dabei, dass der Weg zum Sozialismus nicht über ein Naturgesetz vorbestimmt ist.

Abschließend versucht Saage, anthropologische Konsequenzen aus der Darwinismusrezeption der Sozialdemokratie vor 1933 zu ziehen. Auffallend ist für die Leserin dabei der Fortschrittsglaube, der vor 1914 von fast allen politischen Lagern geteilt und nach dem Ersten Weltkrieg vermutlich teilweise zerstört wurde. Interessant wären Untersuchungen zum Wandel des Fortschrittsbegriffs in der Gesellschaft nach 1933, dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit nach 1989, aber das ist eine andere Geschichte.

Die von Saage dargestellte Thematik ist vor dem Hintergrund bereits genannter Diskussionen noch immer aktuell und wert, aus der heutigen Sicht neu betrachtet zu werden. Die agierenden Personen wirken auch dank der Kurzbiografien im Anhang erfrischend lebendig. Ebenfalls darin enthalten sind Quellen und Literatur, Anmerkungen des Autors, Personen- und Sachregister.

Richard Saage: Zwischen Darwin und Marx. Zur Rezeption der Evolutionstheorie in der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie vor 1933/34. Böhlau Verlag 2012, 280 Seiten, 35 Euro

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Geschichte

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