Zwischen Hochliteratur und Rassismus: Das schwere Erbe amerikanischer Südstaaten
Ihr Buch über die Tagebücher von Frauen aus den Südstaaten ist zugleich eine große Analyse von Literatur und Geschichte, leistet aber auch einen Beitrag zu den Gender Studies. Wie kamen Sie zu dem Thema?
Julia Nitz: Irgendwann hatte ich eines dieser Tagebücher in der Hand, in dem eine Frau darüber schrieb, was sie fühlt, was sie empfindet, wie es ihr geht während des Bürgerkriegs. Das allein war schon interessant, es war ja eine Frau, die über die Zeit des Krieges schrieb, nicht wie sonst immer ein Mann. Ich stellte dann in Folge fest, dass es etliche Tagebücher dieser Art gab und dass eine Unmenge an literarischen Anspielungen und Verweisen in diesen Texten zu finden sind, dass quasi alle diese Frauen große Literatur bemühten, um etwas zu beschreiben. Und: Diese Tagebücher voller Shakespeare und den englischen Romantikern wurden breit publiziert und rezipiert. Ich war sozusagen hooked. Das Thema hatte zudem noch niemand bearbeitet.
Das ist interessant, warum wurden die denn gedruckt und dann auch noch von so vielen Menschen gelesen? Es sind ja Tagebücher, offensichtlich auch über sehr Persönliches…
Zu der Zeit, zu der diese Frauen Tagebuch schrieben, schrieben sie natürlich auch für Leser, also für ihre Familie, die sie vielleicht sogar beauftragt hatte, aufzuschreiben, was in der Familie passierte. Oder mindestens für ihren Ehemann, der natürlich immer Zugriff auf diese Bücher hatte. Ab den 1890er Jahren wurden diese Bücher aber eben auch gedruckt und viel gelesen – überall in den Vereinigten Staaten. Zum Teil bis heute.
Ja, aber warum?
Das hat mit Erinnerungskultur zu tun und damit, dass es ab den 1890er Jahren von den Südstaaten aus verstärkt Bestrebungen gab, die Deutungshoheit über den Bürgerkrieg als Geburt der Nation zu übernehmen und eine politische und kulturelle Vorherrschaft der Weißen im ganzen Land zu etablieren. Ab dieser Zeit bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein gründeten sich viele Initiativen und Vereine, die genau dieses Ziel hatten. Die Frauen schrieben ja in ihren Aufzeichnungen darüber, wie sie die Welt sahen – ganz markant ist da auch, dass sich alle diese Frauen zum Beispiel als Rassenexpertinnen stilisierten.
Ein schlimmes Wort.
Ja, ein schlimmes Wort, aber anders kann man das nicht sagen. Im Wesentlichen ist die Botschaft: Wir haben mit Sklaven zusammengelebt, wir wissen, wie sie ticken. Und zwar nicht wie wir. Sie brauchen unsere Führung und Hilfe, um etwas zu vollbringen.
Das waren ja alles hochgebildete Frauen?
Ja, reich und privilegiert und sehr gebildet, sonst könnten sie diese Verbindung zur Hochliteratur in ihren Texten gar nicht herstellen.
Warum werden diese literarischen Anspielungen überhaupt verwendet? Und warum gibt es so oft Verweise auf Shakespeare und zu den Romantikern?
Zum einen spiegelt das natürlich den Buchmarkt der Zeit, aber eben auch das Bildungsniveau und dazu kommt, dass eine amerikanische Literatur erst im Entstehen ist. Zum anderen brauchten die Frauen unbedingt diese Bezüge, um sich ausdrücken zu können. Literatur wurde zitiert, um etwas emotional zu verarbeiten, um Identitätsfragen zu klären oder die Fragen danach, welche Verantwortung eine Frau in den Südstaaten trägt. Dazu kommt auch, dass die nicht angepassten und nicht passenden Heldinnen, also misfit heroines, wie ich sie nenne, durchaus interessant für diese Frauen waren, Shakespeares Cleopatra etwa oder Maggie Tulliver aus George Eliots Mill on the Floss. Und das Ganze wurde natürlich so formuliert, dass es eigentlich nur der verstehen konnte, der eben diese Literatur genauso gut kannte – nicht jeder Leser dieses Tagebuchs. Die Autorinnen wollten und mussten auch codieren, was sie zu sagen hatten.
Das klingt schon sehr subtil. Ein Beispiel?
Nehmen wir Richard III. von Shakespeare beziehungsweise eine Adaption davon. Da gibt es eine Stelle, in der Richard sagt „Richard‘s himself again“, nachdem er vorher die Selbstkontrolle verloren hatte – und das mit Uhrzeitangabe, nämlich 3 Uhr nachmittags. Das konnten sie in einen Text einbauen, um ihren emotionalen Zustand zu beschreiben und ohne Eingeweihten mehr sagen zu müssen.
Noch einmal zurück zur amerikanischen Gesellschaft. Was lernt man aus diesen Tagebüchern mit Blick auf heute?
Das Tragische, das seit den 1890er Jahren mit der Lektüre dieser Tagebücher eben auch passiert, ist, dass damit der alte Süden den Diskurs über den Amerikanischen Bürgerkrieg bestimmt. Diese Bücher wurden ja im Norden genauso gelesen. Und es ist wirklich erschreckend, die Autorinnen sind junge, weltgewandte, oft sehr sympathische Frauen, die einen klaren Blick haben für die Realitäten, aber die eben auch zugleich rassistisch sind; wirklich rassistisch, man muss es so sagen.
Sie sind Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden?
Ja, das ist ein schweres Erbe, dieser Gedanke der Rassenhierarchie, die Diskriminierung, das zieht sich bis heute durch.
Das macht nicht viel Hoffnung.
Doch, das muss man jetzt auch nicht immer negativ sehen, es gibt auch viel Positives. Es hat sich doch auch in den Wahlen gezeigt, dass eine Mehrheit eben nicht für Trump war – und darum ging es ja auch im Wahlkampf vor allem: um Gleichstellung und Diversität. Dazu kommt: Die kraftvollsten Gegenbewegungen kommen nach wie vor aus den USA, zum Beispiel zuletzt „Black Lives Matter“.
Zum Buch
Julia Nitz: Belles and Poets: Intertextuality in the Civil War Diaries of White Southern Women, Baton Rouge, 2020, 269 Seiten, ca. 53 Euro, ISBN: 978-0807173725
Kommentare
Katja Nebe am 09.04.2021 10:16
Danke für dieses aufschlussreiche und anregende Interview. Es gibt einen tollen Einblick in die von Julia Nitz geleistete Forschungsarbeit und weckt Neugier auf den Austausch mit ihr angesichts unserer aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen.
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