Zwischen wissenschaftlichem Austausch und Eigen-PR
Es klingt wie ein Wissenschafts-Krimi: Japanische Wissenschaftler berichten 2014 in der renommierten Fachzeitschrift Nature von einer bahnbrechenden Entdeckung: Es sei ihnen gelungen, mit einfachen Mitteln sogenannte STAP-Zellen zu züchten. Die sich in nahezu jeden Zelltyp entwickeln lassen könnten. Bis dahin war die Existenz dieser Zellen noch nicht erwiesen – ein Durchbruch für Forschung und Medizin. Doch dann versucht Kenneth Ka-Ho Lee, ein Stammzellenforscher aus Hong Kong, das Experiment zu wiederholen – ohne Erfolg. „Der Wissenschaftler ist ratlos und will verstehen, warum er das Ergebnis nicht reproduzieren kann“, erzählt Maren Schuster, Medienwissenschaftlerin an der Uni Halle.
Rat dazu sucht er auf Researchgate, einem sozialen Netzwerk für Wissenschaftler. Lee veröffentlicht seine Ergebnisse auf der Plattform und diskutiert mit anderen Forschern über das Experiment. Inzwischen kommen weitere Ungereimtheiten der Studie ans Licht: Fehlerhafte Abbildungen und schlecht nachvollziehbare Protokolle kratzen an der Glaubwürdigkeit der Studie. Wenige Wochen später muss die Publikation zurückgezogen werden, offensichtlich hatten einige Wissenschaftler die Ergebnisse der Studie gefälscht.
Dieser Fall zeigt das enorme Potenzial, das sich eröffnet, wenn Wissenschaft auf soziale Netzwerke trifft. „Mit Plattformen wie Researchgate werden die Köpfe weltweit verbunden“, sagt Schuster. Weil hier gleich mehrere Wissenschaftler direkt die neu publizierten Datensätze diskutiert und überprüft haben, hätten die Fehler schnell aufgedeckt werden können. Über sechs Millionen Mitglieder zählt Researchgate mittlerweile weltweit, darunter mehr als 1.200 MLU-Angehörige. Registrierte Benutzer können auf der Plattform nicht nur anderen Wissenschaftlern folgen, sondern auch Themen. Veröffentlicht ein Wissenschaftler ein neues Paper zu einem bestimmten Thema, informiert Researchgate seine Nutzer automatisch darüber.
Fachfragen, Papers und PR: Researchgate
Ein sehr aktives Researchgate-Mitglied ist Dr. Simon Drescher vom Institut für Pharmazie. Seit 2012 ist der Wissenschaftler mit einem eigenen Profil bei Researchgate aktiv: 47 Publikationen, 200 Zitationen und mehr als 4.000 Klicks auf sein Profil kann er mittlerweile vorweisen. Dazu kommen 118,19 gesammelte Impact Points. Diese Punkte ergeben sich aus dem Impact-Faktor einer Zeitschrift, in der ein Aufsatz erschienen ist. Und ein Researchgate-Score von 40,18. Damit gehört er laut Statistik zu den besten Nutzern des Netzwerks. „Von diesen Angaben halte ich wenig. Das sind nur Zahlen, die über die Qualität eines Wissenschaftlers wenig aussagen“, so Drescher. Vielmehr würden solche Zahlen natürlich auf dem Impact-Faktor der Fachzeitschriften und der Größe der wissenschaftlichen Community basieren, die sich mit ähnlichen Themen befasst.
Größere wissenschaftliche Debatten habe er auf dem Portal noch nicht beobachtet. Stattdessen würden vor allem konkrete Fachfragen zu Versuchen und Methoden gestellt, die dann andere Mitglieder beantworten können. Genau darin sieht Maren Schuster einen entscheidenden Vorteil dieser Netzwerke: „Gerade kleinere Fachfragen halten die Forschung im täglichen Betrieb auf. Da sind schnelle Hinweise von den Kollegen sehr hilfreich.“ Auch wenn Drescher dieses Potenzial für sich nicht ausschließen will, hat Researchgate bisher für ihn eine andere Funktion: „Mein Profil dort ist in erster Linie für die Sichtbarkeit in der eigenen Community gedacht.“
Academia.edu – der wissenschaftliche Newsfeed
Ähnlich sieht das Dr. Kai Struve vom Institut für Geschichte. Der Historiker hat sich vor etwa vier Jahren bei Academia.edu angemeldet, einem der größten Researchgate-Konkurrenten. Hier tummeln sich allerdings gerade einmal knapp 200 MLU-Profile. Struve nutzt die Website fast täglich, „um zu schauen, was es Neues gibt“. Der Historiker hat sein Profil so eingerichtet, dass er alle Informationen und Hinweise auf neue Publikationen in seinen Fachgebieten auf einen Blick erhält. Diese Übersicht stellt für ihn den größten Vorteil der Seite dar: „Ich habe schon einige Artikel und Personen gefunden, auf die ich sonst nicht ohne Weiteres aufmerksam geworden wäre.“
Aufgrund dieser Funktionen sind wissenschaftliche Netzwerke für Maren Schuster mehr als nur ein Facebook für Forscher: „Sie bieten ein zusätzliches Instrument für den wissenschaftlichen Austausch, können Orientierung bieten und künftig auch alternative Publikationskanäle darstellen.“ Gerade Forscher, die sich mit Nischenthemen befassen, hätten es häufig schwer, in den renommierten Wissenschaftsjournalen publizieren zu können. „Veröffentlichen sie ihre Aufsätze auch im Netz, sind die Ergebnisse für nahezu jeden verfügbar.“
Bei aller Euphorie über die neuen Möglichkeiten und Verbreitungskanäle der Netzwerke mahnt die Medienwissenschaftlerin, auch eine gewisse kritische Distanz zu wahren. Es komme darauf an, immer wieder zu hinterfragen, welche Folgen die Plattformen für die Wissenschaft haben – wem sie tatsächlich nutzen und ob sie dabei helfen können, die Forschung international voranzubringen. Nicht unwesentlich sei auch die Frage, welches Geschäftsmodell hinter den Plattformen stehe und welchen Nutzen sich die Betreiber davon erhofften. Dass wissenschaftliche Debatten ausschließlich über soziale Netzwerke geführt werden, hält Schuster dagegen für unwahrscheinlich: „Dafür eignen sich andere Formate, wie Konferenzen und Tagungen, besser.“
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