50 Jahre Psychotherapie – an die 1000 Seiten Geschichte(n)

07.04.2013 von Margarete Wein in Forschung, Rezension, Wissenschaft
Im fünften Teil des dritten Kapitels taucht Halle an sechster Stelle zum ersten Mal auf – mit dem Artikel über „Die Anfänge der Psychotherapie an der Universitätsnervenklinik Halle“ (Seite 214 f.). Von da an sind drei hallesche Experten (und Alumni) – Erdmuthe Fikentscher, Heinz Hennig (beide MLU) und Hans-Joachim Maaz – im Ensemble der 75 Autorinnen (30) und Autoren (45) permanent präsent. Die international anerkannte Prominenz der Hallenser und ihre maßgebende Rolle beim Aufbau der Medizinischen Psychologie und einer modernen Psychotherapie im Osten Deutschlands treten allenthalben hervor.

An der Wiege der ostdeutschen Psychotherapie stand, wie eine böse Fee, die aus der Sowjetunion übernommene Idee vom „neuen Menschen“: Diesen könne man nach Belieben (und ideologisch bedingten Erfordernissen) formen, Phänomene wie die psychosomatische Einheit und das Wirken des Unbewussten spielten keine Rolle, seien nichts als Relikte bürgerlicher Wissenschaft. Wie schwierig es im Osten war, die genannten Fachgebiete unter wissenschaftlichen Aspekten in Forschung und Lehre sowie im praktisch-klinischen und therapeutischen Bereich aufzubauen, ist heute kaum mehr vorstellbar.

Das Buch ist im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.
Das Buch ist im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.

Auf der Basis umfassender Auswertung von Archivmaterial bietet das Kompendium eine Gesamtschau des Wissenschaftszweiges der Psychotherapie, mit ihren Verästelungen in Theorie und Praxis, inklusive der Darstellung innerdisziplinärer Diskurse und der Würdigung wegweisender Bemühungen ostdeutscher Vertreter der Zunft vom Ende des zweiten Weltkriegs bis in die Nachwendezeit.

Sechs Kapitel beginnen mit je einem Überblick zu gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Aspekten nebst „Ostdeutscher Psychotherapiechronik“ des erfassten Zeitraums. Ob die Dezimalstruktur die Abfolge der einzelnen Phasen optimal wiedergibt, darüber mag man streiten. Jedenfalls ist sie ein praktikables Gerüst, das (auch Laien) die Suche nach Ereignissen, Daten und Orten in dem differenzierten Beziehungsgeflecht vielleicht leichter macht.

Das erste Kapitel legt mit Exkursen in die Geschichte den Grundstein zum Verständnis der Nachkriegsjahre, besonders der Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Umgang mit der Tradition der Psychoanalyse. Vor allem in (Ost-)Berlin, Jena, Leipzig, Dresden und Halle war man bestrebt, der Medizinischen Psychologie und der Psychosomatik einen angemessenen Platz im Wissenschaftsspektrum zu sichern. Schon 1948 erschien die erste Ausgabe der bis heute existierenden Zeitschrift „Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie“, und es fand die erste Tagung von Psychiatern und Neurologen der SBZ statt.

Im zweiten Kapitel werden die Anfänge der stationären und der ambulanten Psychotherapie sowie der psychotherapeutisch orientierten Kinderpsychiatrie in den 50er Jahren, vor allem in Einrichtungen in Berlin, Halle und Leipzig gezeigt. Die weiteren Kapitel tragen die Titel: 1960–69: Beginnende Institutionalisierung, 1970–79: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung, 1980–89: Wege der Emanzipation, 1990–95: Wende und Nachwendezeit.

Ein Panorama „der Verfahrensentwicklung von Psychodynamischer Einzel- und Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie, Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie, Autogenem Training und Hypnose, Katathym-imaginativer Psychotherapie, Kommunikativer Bewegungstherapie, Konzentrativer Entspannung und Musiktherapie“ (Vorwort des Herausgebers, Seite 19) entfaltet sich. Auch die Integration der Psychotherapie in den Gesamtkontext der Medizin wird deutlich, etwa anhand von „Balintarbeit“ und Supervision.

Überdies wird die Theorie mit „Geschichten aus dem Alltag der Psychotherapeuten“ praxisnahe illustriert. Ein Anhang (Dokumente, Literaturangaben, Namen- und Sachwortregister, Kurzbiografien der Autoren) komplettiert dieses Standardwerk der Geschichte der deutschen Psychotherapie.

Angaben zum Buch:

Michael Geyer (Hg.): Psychotherapie in Ostdeutschland. Geschichte und Geschichten 1945–1995, 1. Auflage, Göttingen 2011, 951 Seiten, 49,95 €, ISBN 978-3-525-40177-4

Schlagwörter

MedizinPsychologie

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