Botanikreisen im Karl-May-Stil
Es waren glückliche Umstände, die Carl Haussknecht in den Orient führten und mit einer großen Sammlung Pflanzen zurückkehren ließen. Mit 21 Jahren und frisch bestandenem Examen als Apothekergehilfe begab er sich 1859 als Geselle auf Wanderschaft an den Rhein und flussaufwärts in die Schweiz. Dort gelang ihm ein aufsehenerregender Pflanzenfund, der ihn mit zahlreichen berühmten Botanikern seiner Zeit in Kontakt brachte. Unter ihnen Pierre Edmond Boissier, der eine umfassende Beschreibung der Flora des Orients plante und Haussknecht beauftragte, für ihn im Vorderen Orient Pflanzen zu sammeln. Dieser nahm an und startete nach umfangreicher Vorbereitung – unter anderem studierte er Pharmazie in Breslau – im Jahr 1865 seine erste Reise. Von dieser und seiner zweiten Reise 1866-1869 brachte er nicht nur zahlreiche Pflanzen mit, sondern auch umfangreiche Reisetagebücher.
„Haussknecht kam an Orte, an denen zuvor kaum Europäer gewesen waren“, sagt Dr. Stefan Knost vom Zentrum für Interdisziplinäre Regionalstudien (ZIRS) der Uni Halle. Der Islamwissenschaftler widmet sich in einem interdisziplinären, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Herbariums Haussknecht der Universität Jena und vom Lehrstuhl Iranistik der Universität Bamberg diesen Tagebüchern, die weit mehr als botanische Informationen enthalten. Erst 2003 wurde dieser Schatz wiederentdeckt - 15 eng in Kurrentschrift beschriebene Hefte mit insgesamt 988 Seiten. Haussknecht kartographierte, beschrieb Orte, Ruinen und Ereignisse. „Er hat in humboldtscher Art geschrieben, die Tagebücher haben auch ein bisschen was von Karl Mays Orientzyklus“, sagt Knost. Für ihn als historisch orientierten Islamwissenschaftler sind vor allem die politischen Entwicklungen der Zeit interessant. „Man kann viel über die Gebiete der heutigen Ost-Türkei lernen.“
Die erste Reise führte Haussknecht von Februar bis Dezember 1865 nach Kurdistan, das heutige Nordsyrien und nach Südostanatolien, die zweite, längere Reise vor allem nach Persien, heute Iran, und verschiedene Gebiete des heutigen Nordirak. „Das Osmanische Reich, zu dem unter anderen die heutigen Türkei, Syrien und Irak gehörten, sowie Persien machten damals einen Modernisierungsschub durch“, sagt Knost. Da er selbst einige Jahre in Syrien gelebt hat, kennt er die Orte, die Haussknecht besucht hat. Mit den sogenannten Tanzimat, auf Deutsch Neuordnungen, wurden im 19. Jahrhundert wichtige Reformen in Angriff genommen, unter anderem wurden die Rechte und Pflichten der Bürger neu definiert. Dazu gehörte aber auch der Versuch, die Autorität des Zentralstaates in ländlichen Regionen wieder zu stärken. Unter anderem eben jenen ländlichen Regionen, in denen Haussknecht nach Pflanzen suchte. „Er bewegte sich zwischen verschiedenen Regionen, staatlich kontrollierten und nicht staatlich kontrollierten“, sagt Knost. Für seine Reise in osmanischen Gebieten habe er entsprechende Papiere dabeigehabt, die ihm in den nicht staatlich kontrollierten Gebieten jedoch nicht halfen. Er habe sich dort als Arzt ausgegeben, um unbehelligt reisen zu können.
Im Rahmen des Forschungsprojekts entsteht eine große Digitaledition mit Querverweisen zu Orten, Pflanzen und Personen, die in den Tagebüchern genannt werden. Knost widmet sich vor allem den Orten im früheren Osmanischen Reich. Keine einfache Aufgabe: „Teilweise, besonders in der heutigen Türkei, heißen die Orte mittlerweile anders. Außerdem hat Haussknecht die Namen phonetisch aufgeschrieben, also so, wie er sie gehört hat“, erklärt Knost. Ihm kommt daher eine doppelte Transferleistung zu: Haussknechts Aufzeichnungen den entsprechenden osmanisch türkischen Ortsnamen sowie dem heutigen Ortsnamen zuordnen. Erschwert werde das dadurch, dass Haussknecht die Namen nicht immer richtig verstand. Er selbst beherrschte hauptsächlich Englisch, Französisch und Latein und verließ sich bei seinen Reisen auf einheimische Reisebegleiter.
Überhaupt sei eine solche Reise eines Europäers damals mit sehr viel Gepäck und Bediensteten unternommen worden. Und auch wenn sich Haussknecht neben der Botanik sehr für die Architektur, Kultur und Menschen vor Ort interessierte, so stand er doch laut Knost hauptsächlich mit anderen Europäern im Austausch. „Er war ein Kind seiner Zeit“, sagt der Wissenschaftler. Lokale Brauchtümer habe er teils fasziniert, teils aber auch herablassend beschrieben.
Vermutlich habe Haussknecht vorgehabt, seine Aufzeichnungen zu veröffentlichen, so Knost. Dazu kam es aber nie. In Weimar baute er nach seiner Rückkehr in den 1890er Jahren ein eigenes Herbarium auf, das später in die Bestände der Universität Jena überging. Mehr als 400 Pflanzensippen wurden auf der Grundlage von Haussknechts Sammlungen neu beschrieben. Nach seiner Rückkehr unterstützte er Boissier bei deren Bestimmung, bei zahlreichen Arten wird er als Zweitautor angegeben. Die von Boissier im Anschluss herausgegebene „Flora Orientalis“ ist bis heute ein Standardwerk.
Das Forschungsprojekt läuft noch bis 2022. Die Digitaledition wird dabei laufend erweitert und ist über die Projektwebsite abrufbar.