Brandspuren eines vereinten Landes
Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen – diese Namen sind fest im Gedächtnis der Deutschen verankert. Sie stehen für Exzesse rechter Gewalt gegen Ausländer und Andersdenkende, für Brandanschläge und Hetzjagden und auch dafür, dass breite Bevölkerungsgruppen nicht eingeschritten sind und Teile davon sogar applaudiert haben. „Diese Orte sind den meisten Menschen in unserem Land ein Begriff, aber sie bilden nicht ansatzweise den Umfang der rechten Gewalt ab, die sich in der ersten Hälfte der 1990er entlud“, sagt Till Kössler, Professor für Historische Erziehungswissenschaft der MLU.
Gemeinsam mit seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Janosch Steuwer hat Kössler im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung das Buch „Brandspuren. Das vereinte Deutschland und die rechte Gewalt der frühen 1990er-Jahre“ herausgegeben. Der Band umfasst Beiträge von 22 Autorinnen und Autoren, die den Ursachen für die Gewalteskalation zwischen 1991 und 1993 nachgehen und zeigen, wie Staat und Gesellschaft darauf reagierten. Zu Wort kommen aber auch die Menschen, denen die Attacken galten und die zum Teil unmittelbar von Anschlägen und Übergriffen betroffen waren.
1991 – der zweite „Deutsche Herbst“?
„Den Grundstein für dieses Werk haben wir mit unserer Tagung ‚Deutscher Herbst 1991‘ gelegt, die wir anlässlich der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit im September 2021 in Halle veranstaltet haben“, erklärt Janosch Steuwer. „Wir wollten die Aufmerksamkeit auf den ersten Jahrestag der deutschen Einheit lenken, denn in den Wochen um den 3. Oktober 1991 begann im frisch vereinten Deutschland eine beispiellose Serie von Angriffen rechter Gewalttäter auf Unterkünfte von Geflüchteten und Migranten.“ Im September und Oktober 1991 registrierten die Behörden fast 1.300 „fremdenfeindliche Straftaten“, darunter 220 Brandanschläge – mehr als fünf Mal so viele wie im gesamten Jahr 1990. Zu den bekanntesten aus dieser Zeit zählen die rassistisch motivierten Übergriffe auf Vertragsarbeiter und Geflüchtete im sächsischen Hoyerswerda zwischen dem 17. und 23. September sowie der Brandanschlag in der Nacht zum den 3. Oktober auf ein Asylbewerberheim im nordrhein-westfälischen Hünxe, bei dem zwei libanesische Mädchen schwerste Verbrennungen erlitten.
Der Schriftsteller Stephan Hermlin hat daraufhin vom „Deutschen Herbst 1991“ gesprochen – in Anlehnung an den sogenannten Deutschen Herbst 1977, in dem die Rote Armee Fraktion das Land terrorisierte. „Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob die Bezeichnung treffend ist“, sagt Till Kössler. „Die Anschläge der Nachwendezeit lassen sich kaum mit denen der gut organisierten RAF vergleichen, die den Umsturz des politischen Systems erzwingen wollte. Viele der rechten Attacken erfolgten spontan, oftmals konnten die Täter nicht einmal ein Motiv angeben.“ Dennoch sei die Metapher gerechtfertigt, denn die Welle rechter Gewalt, der die Sicherheitskräfte zunächst hilflos gegenüberstanden, begriffen 1991 viele Menschen als einen ähnlich tiefen Einschnitt wie 1977. Sie provozierte teils heftige Reaktionen, etwa teilnehmerstarke Demonstrationen, die nicht nur gegen Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit aufriefen, sondern auch das Versagen des Rechtsstaates beklagten. Kössler: „Der deutsche Herbst 1991 steht somit auch für den Beginn einer Diskussion über die künftige Gestaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung.“
Ein ostdeutsches Phänomen?
Eine Frage ist, ob die „Baseballschlägerjahre“, wie der Journalist Christian Bangel die 1990er Jahre nannte, ein vorwiegend ostdeutsches Phänomen gewesen sind. „Es gibt eine verbreitete Tendenz, rechte Gewalt als ostdeutsch zu begreifen“, sagt Janosch Steuwer. „Allerdings geben die Zahlen das nicht her.“ Bis Mitte der 1990er Jahre seien in den alten Bundesländern nicht grundsätzlich weniger fremdenfeindliche Straftaten verübt worden als in den neuen. Unterschiede gebe es vielmehr im konkreten Gewalthandeln, der Größe der Tätergruppen und den Reaktionen der Behörden und der Bevölkerung vor Ort. Vor allem hielt die Welle rechter Gewalt in Ostdeutschland über die Mitte der 1990er Jahre hinaus an, während sie im Westen nach dem Anschlag von Solingen im Mai 1993 deutlich nachließ.
Die gesellschaftlichen Ursachen für die Gewaltspirale der Vereinigungszeit sind vielfältig. „Sicher spielen die Transformationserfahrungen der Ostdeutschen eine Rolle – Zukunftsängste, der Verlust kultureller Identität und ein temporäres Vakuum gesellschaftlicher und administrativer Kontrolle“, sagt Till Kössler. „Das erklärt aber nicht, warum es die Gewalt auch im Westen gegeben hat.“ Auch die Erklärung, in der DDR sei es nicht nur Alltag, sondern auch politischer Wille gewesen, die Bürger von Fremden abzuschotten, greife zu kurz. Denn auch in der alten Bundesrepublik sei die Integration von Zugewanderten nicht gut gelungen, was sich an der Diskussion um knappen Wohnraum zeige und daran, dass viele Gastarbeiter keinen deutschen Pass besessen haben.
Kössler und Steuwer wollen deshalb den Blick erweitern – über die Beziehung zwischen Ost und West und den Transformationsprozess hinaus auf die Geschichte von Einwanderung und Rassismus und die Verhandlung gesellschaftlicher Vielfalt im vereinten Land. „Damit öffnet sich der Diskurs für die lange vernachlässigte Perspektive der Betroffenen von rechter Gewalt“, sagt Janosch Steuwer. „Sie verdeutlicht besonders, dass die ‚Zeit der Brandanschläge‘ ein herausragender Moment der jüngeren deutschen Geschichte war, der unsere postmigrantische Gesellschaft bis heute prägt, dessen historische Erforschung und Erinnerung aber noch weitgehend aussteht.“ Die politisch und rassistisch motivierten Morde von Kassel, Hanau und Halle zeigen, dass diese Aufarbeitung so aktuell und nötig ist wie vor 30 Jahren.
Zum Buch
Till Kössler, Janosch Steuwer (Hrsg.): Brandspuren. Das vereinte Deutschland und die rechte Gewalt der frühen 1990er-Jahre. Bonn 2023, 334 Seiten, 4,50 Euro, ISBN: 978-3-7425-0899-7