Das Gedächtnis der Stadt
Es waren wohl Salzsieder, die beim Zahlen der Steuern säumig waren. Im städtischen Kämmereibuch, das im Stadtarchiv Halle überliefert ist, findet sich jedenfalls für das Jahr 1517 die Verordnung des Amtshauptmannes Hans von Peck, die besagt, dass diejenigen, die innerhalb von 14 Tagen nach dem 25. Januar ihre Steuern dem Rat noch nicht gezahlt haben, aus der Talstadt verwiesen werden. Ordnung muss sein.
Ein lebendigerer Einblick in das Leben einer mittelalterlichen Stadt lässt sich schwerlich finden, denn Stadtbücher sind im Mittelalter und der Frühen Neuzeit das Rückgrat der kommunalen Verwaltung. In einem Stadtbuch, lateinisch liber civitatis, sind schließlich alle administrativen und rechtsrelevanten Angelegenheiten einer Stadt verzeichnet. Die Kodizes gehören daher zu den wichtigsten Quellen für Historiker: Listen von Ratsmitgliedern, Privilegien, Ordnungen, Rechtssprüche oder Rechnungen, Geldbußen, aber auch Steuersünden wurden dort verzeichnet, Testamente der Bürger, ihre Stiftungen sowie Vermögensgeschäfte und vieles mehr.
„Mit Hilfe von Stadtbüchern lassen sich Phänomene wie Herrschaft und Verwaltung – oder ganz allgemein – soziale Interaktionen hervorragend erforschen“, sagt Prof. Dr. Andreas Ranft, Historiker an der Universität Halle. Aber nicht nur die gesamte Verwaltungsgeschichte einer Stadt lässt sich nachvollziehen, Kultur- und Kunsthistoriker sowie Germanisten können ihre Quellen in kommunale Kontexte – Löhne, Preise, Stadtratsentscheidungen, Chronikalisches – einordnen, die bislang wenig bis kaum beachtet wurden.
Denn tatsächlich: Stadtbücher sind erstaunlicherweise bisher sehr wenig erforscht, da sie breit gestreut überliefert, zum Teil nicht zugänglich und daher bisher in Gänze kaum zu überblicken sind. Mit ihrer Arbeitsgruppe wollen Andreas Ranft und Christian Speer nun helfen, diesen historischen Schatz zu heben. Dafür müssen sie und ihr Team Grundlagenarbeit leisten. Die ist auch der DFG so wichtig, dass sie aus ihrem Langfristprogramm über zwölf Jahre hinweg insgesamt vier Millionen Euro zur Verfügung stellt. Das passiert nicht oft.
Onlineverzeichnis Jahrhunderte alter Quellen
Im Februar dieses Jahres fiel der Startschuss für das Großprojekt, in dem alle überlieferten Stadtbücher überregional erfasst und systematisch aufbereitet werden, um sie der Forschung zur Verfügung zu stellen. „Hauptziel ist, eine komplette Datenbank aufzubauen, mit deren Hilfe sich Stadtbücher aus ganz Deutschland und sogar darüber hinaus ausfindig machen lassen“, erläutert Ranft.
Dabei bauen die Forscher auf einem Pilotprojekt auf, in dem ein bereits vorhandenes – in den 1980er Jahren in der DDR zusammengetragenes – Stadtbuchverzeichnis überarbeitet, in die Datenbank übertragen und kommentiert wurde. Seitdem ist die Datenbank unter www.stadtbuecher.de bereits direkt nutzbar. Ein erstes Angebot, das abgerufen wird: „Wir verzeichnen steigende Zugriffszahlen aus aller Welt“, sagt Ranft.
Auch die Stadtbücher Halles sind bereits in der Datenbank zu finden. Im Stadtarchiv der Saalestadt sind immerhin 424 Exemplare aus verschiedenen Jahrhunderten überliefert. Ein besonders altes ist ein in Leder gebundenes Kämmereibuch, dessen erster Eintrag aus dem Jahr 1451 stammt. Notizen über Kometenerscheinungen am Himmel finden sich darin ebenso wie solche über die Gebühren für den Totengräber und zur Entsorgung von Abfällen: So ist ein Eintrag aus dem Jahr 1462 mit den Worten überschrieben: „Den pful und unflot sal man nicht uff die gassen schoten“, was nichts anderes bedeutet, als dass Unrat nicht auf der Straße zu entsorgen ist. „Durch solche Einträge erhalten wir schlaglichtartig sehr anschauliche Bilder aus dem Leben jener Zeit, konkrete Nöte, aber auch, dass sie als Gemeinschaftsaufgaben erkannt und angegangen werden“, sagt Ranft.
Nicht zuletzt sind es die kleineren Kommunen, in denen die Historiker um Andreas Ranft selbst unterwegs sind, um die Bestände zu sichten. Nicht immer finden sie Dokumente, die ideal gelagert werden. So fand Projektkoordinator und Stadtbuch-Experte Christian Speer in einer mitteldeutschen Kleinstadt historische Quellen, unter denen sich auch das Fragment eines Stadtbuchs befand. Sie lagerten bereits seit Jahrzehnten im Rathausturm unterhalb der Schießscharten, verpackt zwar in Kartons, aber dennoch unter ungünstigen Bedingungen: Kälte, Staub und Luftfeuchtigkeit hatten diesen Quellen bereits zugesetzt.
Von Nord- nach Süddeutschland wollen sich die Historiker aus Halle in den nächsten Jahren weiter vorarbeiten. So nehmen sich zwei Doktoranden in einem ersten, auf drei Jahre angelegten Teilprojekt die norddeutschen Bundesländer vor sowie Pommern und Schlesien – denn auch weite Teile des zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert deutschsprachigen Raums östlich von Oder und Neiße fließen in die Arbeit ein. „Ziel ist es auch, verschiedene Stadtbuchlandschaften zu erfassen, denn es gibt verschiedene Traditionen von Stadtbüchern und durchaus signifikante Unterschiede in der Praxis der städtischen Verwaltung“, erklärt Ranft
Der Stadtschreiber als zentrale Person
Diese verschiedenen Traditionen spiegeln sich auch in der Person des Stadtschreibers wider. Als oberster Verwaltungsbeamter der Kommune spielte er eine zentrale Rolle. Er war sehr gut ausgebildet, wurde von den Ratsherren gewählt und blieb in aller Regel sehr lange im Amt. „Das war ein einträglicher Posten, der hohes Ansehen mit sich brachte und auch Einfluß“, sagt Ranft und ergänzt: „Bei ihm liefen alle Fäden zusammen, rasch verfügte er damit über ein Herrschaftswissen, auf das ein jeder städtische Rat angewiesen war.“
Welche Rolle genau ein Stadtschreiber im Geflecht der mittelalterlichen Kommune spielte und was für Männer dieses Amt ausübten – auch das soll im Lauf des Projekts untersucht werden. Eine Doktorandin Ranfts arbeitet bereits an diesem Thema. Diese und weitere analytische Studien bzw. Grundlagenforschungen – seien es Masterarbeiten, Promotionen oder Habilitationen zu Fragen der Genese, Praxis, Ausdifferenzierung, zu Wandel und Struktur kommunaler Verwaltung und Schriftlichkeit im Mittelalter und der Frühen Neuzeit – gehören, neben der weiter auszubauenden Datenbank, zum wichtigsten Anliegen des Forschungsprojektes.
Doch zurück zu den kleinen Orten. Im Gegensatz zu den Großstädten schlummerten dort Stadtbücher oft wenig beachtet und daher meist seit langer Zeit unberührt in den Archiven. Gerade das macht sie für die Forschung interessant. Denn sie liegen in vielen Fällen lückenlos vor und dokumentieren damit gleichsam eine quasi „eingefrorene Situation“, wie Ranft bemerkt. Diese Orte lagen oft schon im Mittelalter etwas abseits und auch später strategisch nicht sehr günstig.
„Sie befanden sich fernab großer Handelsstraßen und Verkehrswege. Positiver Nebeneffekt dieses eigentlichen Nachteils: Sie sind oft von größeren Kriegen verschont geblieben“, ergänzt Christian Speer. Und das hat einen entscheidenden Einfluss auf die Anzahl und Art der Überlieferungen: Denn wo kein Krieg tobt, gibt es auch weniger Feuer. So konnte Christian Speer etwa in Görlitz, das von Krieg oft verschont blieb, auf einen Fundus von rund 6.000 Stadtbüchern zugreifen. Zum Vergleich stellt er fest: „In manchen Städten sind nur zwei oder drei Stadtbücher erhalten geblieben“.
Gerade die Archive großer Städte haben nicht selten ihre alten Stadtbücher in regelmäßigen Abständen selbst vernichtet. „Makulieren“ nannte man diesen Vorgang. Dabei wurden etwa im 19. Jahrhundert Papierkodizes als Altpapier verkauft oder die Pergament-Seiten alter Stadtbücher zu Leim verkocht – aus heutiger Sicht ein Frevel, der nicht mehr wiedergutzumachen ist, oder sie wurden als beinahe unverwüstliches Material für Einbände neuer Bücher verwandt.
Umso wichtiger ist es, die bisher ungenutzten Quellen zugänglich zu machen. „Die mittelalterliche Stadt ist der Nukleus für die heutige Kommune und ihre Strukturen. Sie zu verstehen, heißt auch, sich darüber bewusst zu werden, was für eine Errungenschaft eine funktionierende Selbstverwaltung für das Gemeinwesen ist, die vor allem auf dem Engagement und der Einsatzbereitschaft ihrer Bürger beruht“, sagt Andreas Ranft.