„Dem es gelungen ist, im Flüstern zu schreien!“
Unter dem Titel „Warum Piero Terracina sein Schweigen brach“ gab es eine Zeit lang eine Ausstellung und gibt es auf Dauer ein Buch. Die Ausstellung war vom 9. Oktober 2013 bis zum 7. Februar 2014 im Foyer des Juridicums am halleschen Uniplatz zu sehen; das Buch entstand mit Unterstützung des Forschungsschwerpunktes „Gesellschaft und Kultur in Bewegung“ und des Lehrstuhls für jüdische Studien (beide an der Martin-Luther-Universität) sowie der Kulturstiftung Erlangen.
Was macht diesen römischen Juden, der Auschwitz überlebt hat, so besonders? Nicht, dass er als Einziger einer achtköpfigen Familie dem Grauen entkam; dieses Schicksal teilt er mit vielen. Aber dass es ihm gelang, nach Jahrzehnten endlich zu reden, während manche seiner Leidensgefährten für immer verstummten. Obwohl Silvestri in diesem Kontext Wittgensteins Reflexionen zur Bedeutung des Schweigens zitiert, sollten wir – wie seit über 20 Jahren zig Tausende, denen Piero Terracina seine Geschichte preisgab – froh sein, dass er einen Anlass fand, das Unsagbare in Worte zu fassen.
Dieser Anlass war im Jahr 1992 eine Gedenkfeier in Tivoli, für die man ihn um ein Grußwort bat. Gedacht wurde des dort geborenen jüdisch-italienischen Physikers Emilio Gino Segrè (1905–1989), der zu einer Gruppe junger Neutronenforscher gehörte, die nach dem Sitz des Königlichen physikalischen Instituts in Rom „Die Jungen von der via Panisperna“ hießen und sich 1938 infolge der Rassegesetze in alle Welt zerstreuten.
Seither ist Piero Terracina – in Italien wie im Ausland – ein gefragter und vielfach geehrter Redner. Er spricht vor Schülern, Studenten, Dozenten, in militärischen und kommunalen, in öffentlichen und privaten Institutionen – wo immer man ihn hören will. Im Jahr 2000 führte das italienische Parlament per Gesetz einen „Tag der Erinnerung“ ein; da sind es noch mehr Anfragen geworden. Doch welche Kraft das permanente Erinnern an jene Schreckenszeit ihn kostet, das weiß nur Piero Terracina allein.
Auch in Halle hielt er während der „Hallenser Jüdischen Kulturtage 2013“ am Vorabend der Ausstellungseröffnung einen Vortrag an der Universität, als Teil einer Tagung des genannten Forschungsprojekts, in dem Prof. Dr. Matthias Kaufmann aktiv ist, einer der Herausgeber und Autoren („Individuelle und kollektive Verantwortung: Wer lernt heute was aus der Befremdung durch die Shoa?“) des Buches. Ebenso helfen die Beiträge von Ralph Buchenhorst, Werner Nell und Giuseppe Veltri, der ergreifenden emotionalen Komponente des Zeitzeugenberichts einen sachlich fundierten, wissenschaftlichen Hintergrund hinzuzufügen.
Doch noch ehe man die Texte gelesen hat, ziehen einen die wunderbaren Fotos in der Exposition und im Buch in den Bann. Das bedrückendste: Piero und die sieben Stolpersteine, die vor dem Haus der Familie in der via Lorenzo Valla im Gehweg eingelassen sind und die Namen seiner Eltern, seiner Schwester, seiner beiden Brüder, seines Onkels und seines Großvaters tragen: Lidia, Giovanni, Anna, Leo, Cesare, Amedeo, Leone David.
Die beiden symbolträchtigsten Bilder: Piero vor endlosen Stufen einer Gasse und beim Öffnen der Jalousie an der Balkontür, für einen Blick ins Freie. Das heiterste Bild: Piero mit Schülern auf der Insel Tiberina – oder das mit der winzigen Blume? Wer einmal in Pieros trotz allem so gütige Augen geblickt hat, möchte wohl wie Chiara (Schülerin einer 10. Klasse) daran glauben, „dass da oben immer einer ist, der uns liebt.“
Angaben zum Buch
Matthias Kaufmann, Georg Pöhlein, Andrea Pomplun (Herausgeber): Warum Piero Terracina sein Schweigen brach, mit Beiträgen von Ralph Buchenhorst, Riccardo Di Segni, Matthias Kaufmann, Werner Nell, Andrea Pomplun, Erika Silvestri, Piero Terracina, Giuseppe Veltri und Walter Veltroni, 46 Fotografien von Georg Pöhlein, der Audio-CD „Von Rom nach Auschwitz“, 112 Seiten, Erich Weiß Verlag Bamberg 2013, 18,00 Euro, ISBN 978-3-940821-30-0