Der Forscher, die DNA und Roggen im Stress
Beim Stichwort „Agrarwissenschaftler“ entsteht in vielen Köpfen das Bild einer Person, die in Gummistiefeln auf dem Acker oder im Stall steht, Feldversuche durchführt und nur dann mal im Büro auftaucht, wenn sie Ergebnisse zu Papier bringen muss. Diesem Klischeebild entspricht Dr. Steven Dreissig nicht: „Ich habe tatsächlich wenig Ahnung von Feldversuchen“, sagt der Agrarwissenschaftler der Uni Halle. Seine Arbeit findet am Rechner statt und hat trotzdem das Potential, wertvolle Erkenntnisse für die Landwirtschaft der Zukunft zu liefern.
Das Potential hat auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gesehen: Sie fördert Dreissigs Arbeit seit Januar dieses Jahres mit einer Emmy Noether-Nachwuchsgruppe. Über einen Zeitraum von sechs Jahren erhält die Gruppe bis zu 1,8 Millionen Euro für ihre Forschung.
Dass ihn sein Berufsweg einmal in die Forschung führt, hätte sich Steven Dreissig zu Schulzeiten nicht vorgestellt. „Ich habe mich nicht wirklich für Wissenschaft interessiert. In der elften Klasse wäre ich wegen Bio sogar fast sitzen geblieben“, erzählt er. Geändert hat sich das, als ihm „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann in die Hände fiel. Der Roman behandelt die Biographie von zwei der berühmtesten deutschen Wissenschaftler: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. Der eine bereiste und erkundete die Welt, der andere erforschte sie als Mathematiker vom Schreibtisch aus. Das Buch schaffte es, Dreissig für Wissenschaft zu begeistern. Aus einem Interesse an Ökologie heraus begann er 2008 das Bachelorstudium der Agrarwissenschaften an der Uni Halle. Dort entwickelte sich dann der ernsthafte Wunsch, in die Forschung zu gehen.
Seinen Master der Nutzpflanzenwissenschaften absolvierte Dreissig ebenfalls an der Uni Halle, wobei er einen mehrmonatigen Abstecher an die University of Dundee unternahm. In einer Vorlesung lernte er seinen späteren Doktorvater Prof. Dr. Andreas Houben vom Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) kennen, der an der Uni Halle damals Lehraufgaben übernahm. „Ich habe ihn nach einer Vorlesung angesprochen, ob er eine Promotionsstelle für mich hat“, erzählt Dreissig, „und hatte Erfolg!“
Am IPK sollte er eine Methode zur Untersuchung der meiotischen Rekombination in Gerstenpollen entwickeln. Houben reichte den Projektantrag ein – der abgelehnt wurde. „Das wurde damit begründet, dass die geplante Methode viel zu aufwendig sei und es doch schon etablierte Methoden gebe.“ Dreissigs Promotion wurde dann anderweitig finanziert und inzwischen kann er über die Ablehnung lachen: Genau die Methode kommt nun in der Emmy Noether-Gruppe zum Einsatz.
Triebkraft der Evolution
Die Nachwuchsgruppe untersucht das Zusammenspiel von Umweltbedingungen, insbesondere Nährstoffmangel, und der sogenannten meiotischen Rekombination. Die Meiose ist der Prozess der Zellteilung, bei dem aus einer Zelle mit doppeltem Chromosomensatz vier Keimzellen mit einfachem Chromosomensatz werden. „Dabei kommt es zur Rekombination: Die Arme von zwei benachbarten Chromosomen, auf denen das Erbgut liegt, überlappen und zwischen ihnen tauschen einzelne Gensequenzen ihren Platz“, sagt Dreissig. Je nachdem, wie Genesequenzen getauscht werden, kann das unterschiedliche Merkmale beim Lebewesen hervorrufen: „Ich habe zwei Töchter. Die eine sieht eher meiner Frau ähnlich, die andere eher mir“, erzählt der Forscher. „Angenommen, wir hätten 100 Kinder, würden sie alle relativ ähnlich aussehen, aber keine zwei werden komplett gleich sein, obwohl sie aus dem gleichen Erbmaterial entstanden sind.“
Genauso passiert das bei allen Lebewesen – vor allem dann, wenn sie widrigen Umständen ausgesetzt sind. „Das ist von Vorteil, denn je öfter Gene rekombinieren, desto unterschiedlicher ist die Nachkommengeneration und desto größer wird die Chance auf ein Fortbestehen“, erklärt der Agrarwissenschaftler. „Zum Beispiel führen hohe Temperaturen zu längeren Chromosomenarmen. Dadurch können Genstränge besser überlappen und es finden potentiell mehr Rekombinationen statt.“
Was während der Meiose im Genom stattfindet, sei früher nur mit viel zeitintensiveren Methoden herauszufinden gewesen, erklärt Dreissig: „Man hat Pflanzen gekreuzt, den Samen ausgebracht, von der fertig gewachsenen Pflanze das Genom sequenziert und daraus dann Rückschlüsse gezogen.“ Schneller geht es mit seiner selbstentwickelten Methode. „Wir kennen 80 Gensequenzen, die an der meiotischen Rekombination teilnehmen.“ Diese produzieren Proteine, die die Forschenden mit Fluoreszenzfarbstoffen markieren. Mit deren Hilfe können sie später unter einem speziellen Fluoreszenzmikroskop betrachten, wo welche Rekombinationsereignisse stattgefunden haben. „Wenn wir nur den Pollen nehmen und dessen Gensatz analysieren, sparen wir uns die komplette Befruchtungs-, Samenbildungs- und Wachstumsphase.“
Als Postdoktorand am IPK forschte Dreissig unter anderem bereits zum Unterschied der meiotischen Rekombination in Wildgerste und Kulturgerste. „Kulturgerste wird relativ geschützt angebaut. Wildgerste ist einer ganzen Reihe von Umwelteinflüssen ausgesetzt.“ Tatsächlich fanden die Forschenden einen Zusammenhang von Häufigkeit der Rekombination, deren Position auf den Chromosomenarmen und äußeren Umwelteinflüssen.
Vorteil des Ewigen Roggens
Seit 2019 ist Dreissig zurück an der Uni Halle in der Arbeitsgruppe Pflanzenzüchtung von Prof. Dr. Klaus Pillen. „Die Arbeit klappt hier wunderbar. Professor Pillen hat meine Forschung von Anfang an extrem unterstützt und mir viele Freiheiten gelassen.“ Die Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Möglichkeit zur Habilitation hat er inzwischen gegen die Leitung der Emmy Noether-Gruppe eingetauscht, mit der er sich ebenfalls für eine Professur qualifizieren kann. Am Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften wird Dreissig nun erforschen, wie Umwelteinflüsse die DNA von Roggen verändern. Und dafür ist Halle der ideale Standort: Seit 1878 wird hier der Dauerfeldversuch „Ewiger Roggenbau“ betrieben. Dabei handelt es sich um ein Versuchsfeld, auf dem unter anderem seit mehr als 140 Jahren Roggen in Monokultur angebaut wird. Weil der Boden in einer Parzelle nicht gedüngt wird, sind die Nährstoffe hier knapp. Gerade diese ist für Dreissig von Interesse: „Hier in Halle bietet sich die einzigartige Gelegenheit, Nährstoffmangel als Stressfaktor unter stabilen Versuchsbedingungen zu beobachten.“
Die Roggenpollen erntet Dreissig aus den unreifen Ähren. In Zusammenarbeit mit dem IPK werden die Pollen in mehreren Arbeitsschritten einzeln in Minireaktionsgefäße sortiert. „Das Genom jedes Pollens durchläuft andere meiotische Rekombinationen. In jedem Reaktionsgefäß darf daher nur ein einzelner Pollen sein.“ Nach Vermehrung und Sequenzierung der DNA erkennt Dreissig mittels Methoden der Bioinformatik, wo Gene rekombinieren. „Normalerweise findet das pro Chromosom ein bis drei Mal statt.“
Dreissig will außerdem den Selektionsprozess im Lauf der nächsten Jahre beobachten: „Wir heben das geerntete Saatgut auf und bringen es im nächsten Jahr wieder aus. So können wir nachvollziehen, welche Gensequenzen sich durchsetzen werden.“ Die Erkenntnisse der Forschungsgruppe könnten in Züchtungsprogramme einfließen und diese verbessern. „Außerdem können wir herausfinden, wie unterschiedliche Genvarianten die Evolutionsprozesse beeinflussen. Das ist auch entscheidend dafür, wie widerstandsfähig eine Art gegenüber sich verändernden Umweltbedingungen ist“, so der Forscher. Gerade unter dem Aspekt der aktuellen drastischen Klimaveränderungen sei das wichtig.
Dr. Steven Dreissig
Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften
Tel. +49 345 55-22683
E-Mail: steven.dreissig@landw.uni-halle.de