„Die DFG ist zum Palliativmittel der Forschungspolitik geworden“
1920 wurde mit der „Notgemeinschaft der Wissenschaft“ die Vorgängerorganisation der heutigen DFG gegründet. Wie sah die Forschungsförderung davor aus?
Eine explizite Forschungsförderung des Staates gab es zuvor nur in Ansätzen, etwa 1911 mit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft. Es gab privates Mäzenatentum oder Auftragsforschung für die Industrie. Aber staatliche Forschungsförderung war im Kaiserreich einfach Teil der Grundfinanzierung für die Hochschulen.
Wie kam es dann zu der Not, die die Notgemeinschaft bekämpfen wollte?
Diese Diskussion begann um 1919, weil nach dem Ersten Weltkrieg akute Nöte herrschten. Die Hochschulwissenschaftler kamen nicht an die Ressourcen, die sie für Forschung brauchten, weil die Inflation die Budgets entwertete. Hier betrieb die Notgemeinschaft eine Feuerwehr-Politik. Sie sorgte dafür, dass es ein paar Materialien und Stipendien gab für einzelne Forscher. Und sie kümmerte sich darum, dass die Bibliotheken wieder ausländische Publikationen anschaffen konnten, was extrem wichtig war. Neben den akuten Nöten identifizierten die Hochschulwissenschaftler aber drei strukturelle Notlagen, die nach der Kriegsniederlage und angesichts der materiellen Nöte besonders dramatisch erschienen, in Wirklichkeit aber langfristiger Natur waren, ja bis heute Bestand haben.
Welche sind das?
Das deutsche Wissenschaftssystem war vor dem Ersten Weltkrieg das innovativste der Welt. Deutsche Mediziner, Natur- und Geisteswissenschaftler setzten die Standards. Viele international führenden Journale erschienen in deutscher Sprache. Und am Anfang des 20. Jahrhunderts ging ein Großteil der Nobelpreise nach Deutschland. Aber fast gleichzeitig mit der Kriegsniederlage verloren auch die deutschen Forscher ihre unangefochtene Spitzenposition – und glaubten vielfach, dass der eigene Abstieg von der Weltspitze mit der Kriegsniederlage verbunden sei …
Aber?
Wenn man genau hinguckt, ist das verkürzt. In der Physik zum Beispiel ging der deutsche Einfluss schon vor dem Ersten Weltkrieg zurück – andere Nationen wie die USA holten auf. Im Krieg und bis in die 1920er Jahre boykottierten alliierte Wissenschaftler ihre deutschen Kollegen, und die antworteten mit einem Gegenboykott. Das verstärkte den Abwärtstrend. Die erste Notlage lautet also: „Wir sind in Rückstand geraten.“ An diesem Schock und der Überzeugung, eigentlich gebühre ihm ein Platz an der Spitze, arbeitet sich das deutsche Wissenschaftssystem seitdem permanent ab.
Welche ist die zweite Not?
Die Wissenschaft sah sich ab 1919 sich mit einem Staat konfrontiert, den die meisten Hochschulprofessoren ablehnten. Im Kaiserreich war ihr gesellschaftlicher Status sehr hoch gewesen. Leicht überspitzt: Ein deutscher Professor galt fast so viel wie ein preußischer Offizier. Und nun, in der Republik, sollte man von den Beschlüssen gewählter Politiker abhängig sein, die häufig noch nicht einmal studiert hatten?
Man wollte also nichts mit dem Staat zu tun haben …
Explizit mit diesem Staat nicht, der Republik. Trotzdem sollte dieser Staat die Forschung finanzieren. Die Notgemeinschaft war eine Antwort auf dieses Problem: Die Professoren wollten Forschungsgelder haben, mussten aber nicht selbst bei der Politik darum werben. Sondern sie erhielten die Mittel indirekt über eine Institution, die den Kontakt mit Politikern übernahm. Der erste Präsident der Notgemeinschaft bis 1934 war Friedrich Schmidt-Ott, der letzte königlich-preußische Kultusminister. Mit ihm hatte man einen Mittler, der sich in der Bürokratie gut auskannte und keine Scheu hatte, Kontakt zur Politik aufzunehmen. Er wurde von den Professoren anerkannt, weil er eine Kontinuität zur Monarchie verkörperte. Langfristig geht es bei dieser zweiten Notlage um das Problem der Autonomie von Wissenschaft oder ihrer Fremdbestimmung durch den Staat, durch die öffentliche Meinung und die Wirtschaft.
In der Vermittlerposition zwischen Forschung und Politik ist die DFG bis heute.
Genau, sie vermittelt die politischen Wünsche in die Wissenschaft hinein – und zwar in einer Sprache und in Formen, die näher am Denken der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind. Sie beschafft Fördermittel und sie vertritt Interessen der Wissenschaft gegenüber der Politik. Aber letztlich war die Notgemeinschaft und ist die DFG einseitig abhängig von der Politik: Ihr Status beruht auf dem Fließen staatlicher Gelder, und um die eigene Funktion zu wahren, muss sie verhindern, dass der Staat diese Gelder über andere Organisationen verteilt. In Streitfällen hat die Politik genau dies signalisiert: Falls Ihr unsere Politik nicht durchführen wollt, dann finden wir dafür schon eine andere Organisation. Dann gab die DFG klein bei. Das geschah etwa 1952 bei Einführung der Schwerpunktprogramme und 1968 bei Einführung der Sonderforschungsbereiche. Im DFG-Senat gab es heftige Diskussionen, weil man diese Programme mehrheitlich eigentlich nicht wollte.
Warum nicht?
Die Grundhaltung war, dass das eigentlich innovative Element das kreative Individuum sei. Dieses galt es zu fördern. Der staatliche Ansatz setzte aber auf Planung und Institutionalisierung. Mit den Schwerpunktprogrammen zum Beispiel wurden ab 1952 Forschungsfelder gesetzt und danach mussten sich die an Fördergeldern interessierten Individuen ausrichten. Deshalb lehnten die von Professoren dominierten DFG-Gremien solche Programme zunächst ab. Auch die Exzellenzinitiative war anfänglich nicht unumstritten, heute verkauft die DFG sie als Erfolgsgeschichte. Anfänglich eine Vergemeinschaftung von Professoren ist die DFG eben zu einer Organisation mit Eigeninteressen geworden – primär dem Interesse, die Funktion als wichtigste Verteilstelle staatlicher Drittmittel an die Hochschulen zu behaupten. Die DFG war nie eine Alternative zur staatlichen Forschungspolitik, sondern sie übersetzt deren Impulse in Sprachen und Formen, die für die Hochschulwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler akzeptabel erscheinen.
Lassen Sie uns noch über die dritte Not sprechen, die Sie beschreiben. Worin zeigt sich diese?
In der Notgemeinschaft dominierte von Anfang an ein spezifischer Typus des Forschers, nämlich der ausschließlich männliche spätwilhelminische Hochschulordinarius. Der verstand sich als holistischer Gelehrter, als Grundlagenforscher. Er forschte nicht einfach auf einem Spezialgebiet und zu einem bestimmten Zweck, sondern er erhob den Anspruch, einen Beitrag zum ganzheitlichen Verständnis der Natur und des Menschen zu leisten. Und er leitete hieraus ab, dass sein Status höher sei als jener von anwendungsorientiert oder gar in der Industrie forschenden Kollegen. Aber auch diese Forschungskultur geriet seit dem Ersten Weltkrieg unter Druck: Die Industrie warb Forscher ab, Staat und Öffentlichkeit verlangten „nützliche“ Forschung. Dagegen sollte die Notgemeinschaft ihre Klientel schützen. Und auch wenn das Ideal des Gelehrten-Ordinarius verschwunden ist, das Narrativ hat sich bis heute verstetigt: Die Grundlagenforschung beklagt, dass der Transfer oder die Anwendungsforschung zu viel Aufmerksamkeit und Geld hat, während man selbst mit sehr wenig auskommen müsse.
Gehen wir nochmal zur Projektförderung zurück. Sie schreiben im Buch, dass in den Anfangsjahren der Notgemeinschaft eine Förderung auch immer eine Bestätigung ist, wer zur elitären Grundlagenforschung dazu gehört und wer nicht. Was bedeutet das?
In den Gremien der Notgemeinschaft bestätigten sich die Ordinarien qua Begutachtung wechselseitig, zur elitären Gruppe der Gelehrten zu gehören. In den erhaltenen Gutachten sieht man, dass es von den 1920er bis in die 1950er Jahre vor allem um Reputation ging: Welchen Status hat der Antragsteller innerhalb der Disziplin? Gilt er seinen Kollegen als jemand, der etwas geleistet hat? Dann wurde er gefördert.
Um den Inhalt der Projekte ging es also gar nicht so sehr?
Viele Anträge und auch die Gutachten sind eher lakonisch formuliert. In letzteren steht mitunter, dass man die Forschung des Kollegen zwar nicht verstehe, dieser aber aufgrund bisheriger Forschung anerkannt sei und deshalb förderungswürdig. Wenn es um die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ging, wurde in den Gutachten bis Ende der 1950er Jahre auch viel über Charaktermerkmale geschrieben: Ordnet sich die Person willig in die Hierarchie der Ordinarienuniversität ein? Und denkt sie zugleich eigenständig genug, um künftig selbst Ordinarius zu werden? Diese Balance aus Selbständigkeit und Unterordnung zu wahren, war vor allem für Nachwuchswissenschaftlerinnen extrem schwierig. Bei ihnen galt ein Zuviel an Selbständigkeit den fast ausschließlich männlichen Gutachtern schnell als „unweiblich“ und negative Charaktereigenschaft.
Wann änderte sich die Begutachtungspraxis?
Ab den frühen 1960er Jahren rückte eine neue Generation von Professoren und einigen Professorinnen nach. Diese hatten Teile ihrer Ausbildung im westlichen Ausland absolviert. Dort hatten sie gelernt, Wissenschaft anders zu betreiben: im Team statt unter der Herrschaft eines Ordinarius. Diejenigen, die zurückkamen, brachten diese Erfahrungen mit in die DFG ein. Die Organisation merkte selbst, dass Veränderungen nötig waren, um sich – noch einmal Stichwort „Rückstand“ – international zu behaupten. Das ist das Faszinierende an der Geschichte der DFG: Man kann die Entwicklung des deutschen Wissenschaftssystems und ganzer Fachdisziplinen über einen sehr langen Zeitraum beobachten. Das geht anhand der Geschichte einer einzelnen Universität nicht.
Sie haben die Entwicklung der DFG auch mit der National Science Foundation in den USA verglichen. Warum?
Die drei Nöte, die ich beschrieben habe, betrafen nicht nur die deutsche Wissenschaft. In vielen westlichen Staaten gab es im Laufe des 20. Jahrhunderts die gleichen Interessenkonflikte und es zeichneten sich ähnliche Entwicklungen ab: In den USA gründeten Grundlagenforscher 1916 den National Research Council, 1950 die National Science Foundation. In Frankreich wurde 1930 die Caisse nationale de la recherche scientifique initiiert, hieraus 1939 das Centre national de la recherche scientifique. Diese Organisationen inklusive der DFG garantieren bis heute, dass es an Universitäten Forschung, vor allem Grundlagenforschung, geben kann. Ein Problem ist, dass die DFG damit immer mehr auch zu einem Palliativmittel geworden ist. (lacht)
Das müssen Sie erklären.
Egal ob Halle, Heidelberg oder die LMU München – alle Universitäten sind, wenn auch unterschiedlich stark, strukturell unterfinanziert. Im November 1977 haben Bund und Länder entschieden, die Finanzierung der Hochschulen nicht an die steigenden Studierendenzahlen anzupassen. Man glaubte, in etwa zehn Jahren würden die Immatrikulationen sinken und ab dann wäre die Finanzierung der Hochschulen wieder angemessen. Diese Prognose ist bis heute nicht eingetreten, aber an der damaligen Grundsatzentscheidung hält die Politik fest. Und das geht zu Kosten der Forschung. In den 1990er Jahren hat man dann nach Gründen für eine vermeintlich zu geringe Forschungsleistung gesucht. Das Problem wollte man lösen, indem man das System durch eine stärkere Orientierung auf Drittmittel unter Druck setzte. Und diese Mittel verteilt im großen Stil eben die DFG. Wir sind alle froh, dass es sie gibt und wir profitieren von ihrer Förderung. Zugleich täuscht uns diese Förderung darüber hinweg, dass das Hochschulsystem insgesamt falsch finanziert ist – zu geringe Grundfinanzierung bei einem zu hohen Drittmittelanteil.
Zur Person
Prof. Dr. Patrick Wagner ist seit 2006 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Halle. Zuvor forschte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer von der DFG eingerichteten Forschungsgruppe zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in deren Rahmen rund 20 Studien und Sammelbände im Franz Steiner Verlag erschienen sind. Von 2008 bis 2011 leitete Wagner zudem im Auftrag des Präsidenten des Bundeskriminalamts ein Forschungsprojekt zu dessen Geschichte.
Weitere Informationen zum Buch: https://www.dfg.de/service/presse/pressemitteilungen/2021/pressemitteilung_nr_20/
Zum Buch:
Patrick Wagner: Notgemeinschaften der Wissenschaft. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) in drei politischen Systemen, 1920 bis 1973. Stuttgart 2021, 505 S., 68 Euro, ISBN: 978-3-515-12857-5
Weitere Informationen auch unter: https://www.dfg.de/dfg_magazin/aus_der_dfg/geschichte/index.html