Die Jagd auf den Adlermörder

29.09.2021 von Ronja Münch in Wissenschaft, Forschung
Jahrzehntelang blieb die Ursache für ein mysteriöses Adlersterben in den USA unbekannt. Mit der Hilfe von Prof. Dr. Timo Niedermeyer und seinem Team konnte der krimiähnliche Fall endlich gelöst werden, die Geschichte wurde im März Titelstory bei „Science“.
Timo Niedermeyer mit Cyanobakterien, die für die Kultivierung vorbereitet werden
Timo Niedermeyer mit Cyanobakterien, die für die Kultivierung vorbereitet werden (Foto: Markus Scholz)

Alles begann mit mysteriösen Todesfällen unter Weißkopfseeadlern, dem Wappentier der USA. In den 90er Jahren wurden im Bundesstaat Arkansas Dutzende Vögel gefunden, die die Kontrolle über ihre Muskulatur verloren hatten, die Flügel adleruntypisch hängen ließen, umkippten und schließlich starben. Der Grund dafür wurde in ihrem Gehirn gefunden: Es war löchrig wie Schweizer Käse. „Es war ein Mysterium, woher die Krankheit kam“ sagt Prof. Dr. Timo Niedermeyer vom Institut für Pharmazie. Erst mehr als 25 Jahre später gelang es mit seiner Hilfe, die Ursache für das Adlersterben zu identifizieren.

In den 90ern wurden zunächst weitere Vogelarten gefunden, die an der „Vakuolären Myelopathie“ (VM) genannten Krankheit litten. Tatsächlich stellte sich heraus, dass der Adler nur das letzte Glied in der Nahrungskette darstellte. Der Raubvogel ernährt sich von kleineren Vögeln und Fischen, die ebenfalls betroffen waren. „Die amerikanischen Kollegen haben schließlich eine Wasserpflanze gefunden, die offenbar mit VM in Verbindung stand“, so Niedermeyer. Denn nur in der Nähe von Seen mit der in den USA invasiven Grundnessel Hydrilla verticillata trat die Nervenkrankheit auf.

2005 gelang der Biologin Prof. Dr. Susan Wilde von der University of Georgia in Athens der erste Durchbruch: Sie fand neuartige Cyanobakterien auf den Blättern von Hydrilla und stellte in Fütterungsversuchen fest, dass die Krankheit nur nach dem Verzehr von Pflanzen auftrat, die mit den Bakterien befallenen waren. Das entdeckte Cyanobakterium nannte sie Aetokthonos hydrillicola, „Adlermörder, der auf Hydrilla wächst“. Sie spekulierte, dass ein Cyanotoxin die Krankheit verursachen müsse. 2010 stieß schließlich Timo Niedermeyer zufällig auf Berichte darüber. „Ich habe damals gerade erst angefangen, mich mit Cyanotoxinen zu beschäftigen“, erzählt der Pharmazeut. Die Geschichte faszinierte ihn, er kontaktierte die amerikanische Forscherin. „Sie hat sofort geantwortet, dass sie noch nicht wussten, was für ein Gift die Krankheit auslöst.“

Niedermeyer bot seine Hilfe an und bekam von Wilde Proben der befallenen Wasserpflanze geschickt. „Wir haben ganze 18 Monate gebraucht, um eine reine Kultur der Bakterien in ausreichender Menge für einen Fütterungsversuch zu züchten, weil sie sehr langsam wachsen“, so der Forscher. Die Bakterienkultur schickte er zurück in die USA, wo Wilde Fütterungsexperimente mit Hühnern durchführte – die jedoch negativ ausfielen. Die Cyanobakterien alleine lösten keinerlei neurologische Schäden aus. Mit seinem Team veränderte Niedermeyer die Kultivierungsbedingungen, züchtete eine schneller wachsende Variante der Cyanobakterien. Und kam wieder nicht weiter. „Nicht nur die Vögel hat das in den Wahnsinn getrieben, uns auch. Wir wollten dieses Rätsel unbedingt lösen", sagt er. Dennoch sei er kurz davor gewesen, aufzugeben.

Sein Wechsel von der Uni Tübingen an die Universität Halle im Jahr 2017 habe schließlich den Wendepunkt bedeutet. „Wir hatten endlich eine Doktorandenstelle für das Projekt“, sagt Niedermeyer. Noch wichtiger war aber ein spezielles Gerät, das er mit Geldern der DFG, des Landes und der Uni anschaffen konnte: ein bildgebendes Massenspektrometer. Mit dem Spektrometer konnte Steffen Breinlinger, der seine Dissertation zu dem Thema schrieb, Molekül für Molekül die Blattoberfläche untersuchen und stieß schließlich auf die entscheidende Substanz, die nur dort vorkam, wo die Bakterien wuchsen.

„Die Struktur ist wirklich spektakulär“, so Breinlinger. Denn sie enthält fünf Brom-Atome, ungewöhnlich für eine von in Süßwasser lebenden Bakterien produzierte Verbindung. Zugleich lieferte die Zusammensetzung die Erklärung dafür, warum die Laborkulturen das Molekül nicht produzieren. „Ihnen stand einfach kein Bromid zur Verfügung“, sagt Niedermeyer, in den üblichen Nährlösungen ist es nicht enthalten. Und tatsächlich: Die Zugabe von Kaliumbromid führte dazu, dass sie die Verbindung produzierten. In Fütterungsversuchen bestätigte Wilde, dass der ungewöhnliche Naturstoff die „Vakuoläre Myelopathie“ auslöst. Die Forschenden nannten das Gift in Anlehnung an die Cyanobakterien Aetokthonotoxin, „Adlermördergift“.

Täter und Tatwaffe waren damit endlich gefunden. Eine beteiligte tschechische Arbeitsgruppe fand in Genomanalysen zudem die für die Biosynthese der Substanz verantwortlichen DNA-Abschnitte. Das nötige Bromid wird offenbar von der Grundnessel zur Verfügung gestellt, die es aus Ablagerungen am Grund des Gewässers aufnimmt und anreichert.

Woher das Bromid ursprünglich kommt, ist noch ungeklärt. Bromverbindungen können natürlicherweise in Gestein vorkommen, werden jedoch meist nur in geringen Mengen freigesetzt. Im Verdacht stehen deswegen Quellen wie Kohlekraftwerke, Rückstände von der Herstellung bromhaltiger Flammschutzmittel und eines der Herbizide, die gegen die invasive Wasserpflanze eingesetzt werden. „Wir verstehen manchmal gar nicht die Folgen dessen, was wir mit der Umwelt machen“, sagt Niedermeyer. Die Wasserpflanze und das Cyanobakterium zu bekämpfen, werde im Übrigen schwierig: Sie haben sich im gesamten Südosten der USA ausgebreitet.

Für Timo Niedermeyer ist der Fall vor allem ein Beispiel dafür, dass sich Durchhalten bei einem spannenden Projekt lohnen kann. Die Studie, die er zusammen mit Susan Wilde und weiteren Partnern veröffentlichte, wurde Titelgeschichte bei „Science“. „Die Resonanz auf den Artikel war ziemlich überwältigend und schon irgendwie befriedigend, nachdem wir da zehn Jahre viel Herzblut reingesteckt haben“, sagt Niedermeyer. National und international griffen zahlreiche Medien das Thema auf, vom Deutschlandfunk bis zur FAZ, von der US-Zeitschrift The Atlantic bis zum Technologie-Magazin Wired. Das Gift Aetokthonotoxin und auch das Cyanobakterium will Niedermeyer weiter erforschen. Unklar ist bisher unter anderem noch, ob auch Säugetiere betroffen sein können und ob der Verzehr von Fischen aus betroffenen Seen gefährlich sein kann.

Prof. Dr. Timo Niedermeyer
Institut für Pharmazie
Tel.: +49 345 55-25765
E-Mail:timo.niedermeyer@pharmazie.uni-halle.de

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