Die Lebensmittel der Zukunft

30.04.2019 von Ines Godazgar in Im Fokus, Forschung
Die Ernährungsforschung an der MLU wird längst über die klassischen Fächergrenzen hinaus betrieben, wohl auch deshalb, weil ihre Inhalte gleichermaßen umfänglich wie komplex sind. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten daran, durch gezielte Veränderungen in der Ernährung der Entstehung von Erkrankungen entgegenzuwirken.
Suzanne Roß im Labor der Ernährungswissenschaften - dort werden auch Kakaobohnen untersucht.
Suzanne Roß im Labor der Ernährungswissenschaften - dort werden auch Kakaobohnen untersucht. (Foto: Maike Glöckner)

Wer sich mit Prof. Dr. Gabriele Stangl über ihre Arbeit unterhält, der landet irgendwann immer beim Vitamin D. Wie ein roter Faden zieht sich diese für den menschlichen Organismus so wichtige Substanz durch die Forschung der halleschen Ernährungswissenschaftlerin. Wenn sie in ihrem Büro auf dem Weinberg Campus über ihr Fach spricht, wird schnell klar: „Ernährungsforschung ist ein großes Thema geworden.“ Stangl muss es wissen, hat sie doch seit 2004 an der MLU eine Professur für Humanernährung inne.

Als sie vor 14 Jahren nach Halle kam, steckten die hiesigen Ernährungswissenschaften gewissermaßen noch in den Kinderschuhen. Erst wenige Jahre zuvor war das gleichnamige Institut aus der Taufe gehoben worden. Und obwohl der im Wintersemester 2000/2001 ebenfalls neu an den Start gegangene Studiengang sofort zum großen Renner avancierte, fristete die anfangs mit lediglich einer Professur ausgestattete Einrichtung eher ein Schattendasein.

Davon ist heute nichts mehr zu spüren. Nicht nur, weil das Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften – wie es jetzt heißt – inzwischen inhaltlich wesentlich breiter aufgestellt und damit auch personell gewachsen ist, sondern auch, weil die Ernährungsforschung an der MLU längst interdisziplinär geworden ist. Mediziner, Chemiker und Biologen sind daran genauso beteiligt wie Ernährungswissenschaftler. Und oft wird dabei im Rahmen hochrangig geförderter Projekte oder gar kompletter Netzwerke geforscht.

Eins davon ist das Kompetenzcluster für Ernährung und kardiovaskuläre Gesundheit unter dem Titel „nutriCARD“. Unter diesem Dach werden seit 2015 – gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) –  die wissenschaftlichen Expertisen der drei mitteldeutschen Universitäten Halle, Jena und Leipzig im Ernährungsbereich gebündelt. „Im Rahmen von nutriCARD erforschen rund 40 Wissenschaftler die Mechanismen ernährungsbedingter Erkrankungen. Außerdem suchen sie nach Lösungen für gesündere Lebensmittel“, erklärt Stangl. Der Forschungsschwerpunkt in Halle untersucht vor allem die kausalen Wirkungen von Nahrungsinhaltsstoffen auf den Stoffwechsel und die Herzgesundheit. Außerdem befasst er sich mit der Sicherheit neu entwickelter Lebensmittel.
 

Gabriele Stangl (re.) mit Mitarbeiterin Heike Giese
Gabriele Stangl (re.) mit Mitarbeiterin Heike Giese (Foto: Maike Glöckner)

Im Mittelpunkt von Stangls eigener Arbeit bei „nutriCARD“ steht seit Längerem das eingangs bereits erwähnte Vitamin D. Und damit ein enorm wichtiges Molekül, das eigentlich vom menschlichen Organismus unter Einwirkung von Sonnenlicht endogen produziert wird. „Obwohl die Substanz seit rund 100 Jahren bekannt ist, wissen wir bisher sehr wenig darüber, wie sie vom Darm absorbiert wird“, erklärt Stangl, die derzeit gleich mehrere Projekte zum Vitamin D bearbeitet.

Eines davon geht der Frage nach, ob sich Vitamin D, das in Tablettenform aufgenommen wird, im Körper genauso verteilt wie das in der Haut durch den Einfluss von Sonnenlicht gebildete Vitamin D. Außerdem soll untersucht werden, ob Sonnenlicht außer der Bildung von Vitamin D noch zusätzliche Wirkungen auf die Gesundheit hat. Denn bereits jetzt gebe es Anhaltspunkte dafür, dass natürliches Licht sowohl den Blutdruck als auch die Immunfunktionen beeinflusst.

Um genauen Aufschluss darüber zu bekommen, seien jedoch weitere Studien notwendig. Stangl: „Solche Untersuchungen sind enorm wichtig. Denn mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen könnten wir womöglich deutlich konkretere Empfehlungen für die Gesunderhaltung der Menschen aussprechen.“ Im vorliegenden Fall könnte sich am Ende vielleicht zeigen, dass sich mit einem Aufenthalt im Freien mehr Nutzen erzielen lässt als mit einer bloßen Vitamin-D-Supplementierung durch die Einnahme von Tabletten.

Eine Frage der Sicherheit

Wim Wätjen nutzt für seine Forschung winzige Fadenwürmer.
Wim Wätjen nutzt für seine Forschung winzige Fadenwürmer. (Foto: Maike Glöckner)

Letztlich gehe es bei Ernährungsforschung immer auch um den Verbraucherschutz. Auch hier sind die Arbeiten im Rahmen von „nutriCARD“ zum Vitamin D ein gutes Beispiel. Denn um die Versorgung der Bevölkerung mit Vitamin D zu verbessern, hat die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit kürzlich die UV-Bestrahlung von Hefe zugelassen. „Doch bei diesem Vorgang entstehen außer Vitamin D auch Moleküle, deren Wirkungsweise bisher nicht bekannt ist. Das ist eine Sicherheitslücke“, sagt Prof. Dr. Wim Wätjen, seit 2012 ebenfalls Professor am Institut für Ernährungswissenschaften. Als Chemiker und Toxikologe untersucht er die bei der Bestrahlung entstehenden Fotoisomere und beurteilt anschließend ihre Sicherheit für die Verbraucher. Dabei nutzt er winzige Fadenwürmer namens Caenorhabditis elegans. Mit Hilfe dieser nur etwa einen Millimeter langen Modell-Organismen lassen sich derartige Stoffwechselvorgänge untersuchen und damit auch Rückschlüsse auf den Menschen ziehen.

Grundlagenorientierte Studien wie diese sind es, die die Arbeit der halleschen Ernährungsforscher prägen. Dabei geht es immer wieder um ähnliche Fragestellungen: Was wirkt im Körper wie und warum? Und was passiert im Organismus, wenn einem Lebensmittel etwas zugesetzt wird? All das lässt sich nicht ohne solide Ausstattung und fundierte Methoden untersuchen. Chromatografie und Massenspektrometrie sind zwei Expertisen, über die die Hallenser seit Langem verfügen. Die zugehörigen Geräte sind „der Goldstandard zur Messung und Erfassung von Food-Metaboliten“. Das hat selbstredend seinen Preis. 300.000 Euro hat etwa das noch relativ neue Massenspektrometer gekostet, das zu großen Teilen durch das Land Sachsen-Anhalt finanziert worden ist.

Natürlich ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Folgen von falscher oder zu viel Ernährung für Gabriele Stangl und ihre Kollegen immer wieder eine Herausforderung. In diesem Zusammenhang verweist sie auf die kardiovaskuläre Gesundheit der Bevölkerung. „Rund 40 Prozent der Todesfälle in Deutschland entfallen auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen“.

Über die Erforschung von Zusammenhängen zwischen Ernährung und Krankheiten hinaus spielt der Anwendungsaspekt für die halleschen Ernährungsforscher eine besondere Rolle. Das bedeutet: „Wir wandeln herkömmliche Lebensmittel ab, indem wir einzelne, für den Körper problematische Komponenten abwandeln oder in ihrer Dosierung verändern. Außerdem testen wir neue Rohstoffe.“ Ein Beispiel für den Erfolg dieser Arbeit ist das Lupinen-Eiweiß, das inzwischen bereits in herkömmlichen Lebensmitteln im Handel erhältlich ist.

Hierfür steht auf dem Weinberg Campus auch die entsprechende Technik zur Verfügung. Mit Hilfe einer Anlage zur Lebensmittelextrusion können maßgeschneiderte Lebensmittel für Humanstudien und Prototypen für die Ernährungswirtschaft produziert werden. Um die Ergebnisse möglichst schnell und direkt in die Anwendung zu transferieren, unterhält Stangl auch Kooperationen mit kleinen und mittelständischen Unternehmen, wofür sie 2015 den Transferpreis der Stadt Halle erhielt. Ein Beispiel für eine solche Kooperation sind Arbeiten, die zunächst im zur MLU gehörenden Agrar- und ernährungswissenschaftlichen Versuchszentrum (AEVZ) in Merbitz (Saalekreis) durchgeführt wurden. Dort stellte sich heraus, dass Eier von Legehennen aus Bodenhaltung einen drei- bis fünfmal so hohen Vitamin-D-Gehalt aufwiesen, wenn die Tiere im Stall zuvor mit Licht bestrahlt wurden, das das volle Wellenlängenspektrum des natürlichen Tageslichts enthielt. Um diese Erkenntnis möglichst schnell für die Praxis nutzbar zu machen, wandte sich Stangl an eine Agrargenossenschaft in Pretzsch (Landkreis Wittenberg), wo man fortan das spezielle Licht ebenfalls einsetzte. Der zuvor bereits erprobte Effekt konnte dabei bestätigt werden.

Mehr öffentliches Interesse

In Kakao und Schokolade wurde Vitamin D2 gefunden.
In Kakao und Schokolade wurde Vitamin D2 gefunden. (Foto: Maike Glöckner)

So wie die Arbeit der Ernährungsforscher längst kein Nischenthema mehr ist, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch die gesellschaftliche Wahrnehmung der Ernährung verändert. Ging es früher vor allem darum satt zu werden, ist das, was wir täglich zu uns nehmen, inzwischen ein beliebtes Thema, das in der Öffentlichkeit breit diskutiert wird und das mitunter zur Glaubenssache mutiert ist. „Ich verstehe jeden, der die Nase voll hat von den vielen Paradigmenwechseln, die in letzter Zeit in Ratgebern, aber auch in Talkshows öffentlich propagiert worden sind“, sagt Stangl, die diesen Druck auch durch ein gesteigertes öffentliches Interesse an ihrem Fach wahrnimmt. Ein Beispiel: Als sich ihre Forschergruppe 2018 zu einer zufällig getätigten Entdeckung äußerte, nämlich der, dass in Kakao und Schokolade Vitamin D enthalten ist, wurden Stangl und ihr Team von den Medien regelrecht überrollt. Doch letztlich, so meint sie, lasse sich dieses Interesse auch nutzen. „Ich hoffe, es trägt dazu bei, dass die Ergebnisse unserer Arbeit auch einen direkten Nutzen für die Verbraucher haben werden.“

Schließlich gehe es darum, der Entstehung von Wohlstandserkrankungen mit einer gezielten Veränderung des Lebensstils entgegenzuwirken. Dafür braucht es keine neue Diät, weder Paläo noch Intervallfasten oder Low Carb. Im Grunde müsse man lediglich ein paar einfache Regeln beherzigen: vielfältige Kost, mehr pflanzliche Ernährung, selbst kochen und nicht in Eile essen. Gabriele Stangl: „Jede Einseitigkeit birgt das Risiko für einen Mangel.“

Ernährungscluster in zweiter Förderphase

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert das Kompetenzcluster für Ernährung und kardiovaskuläre Gesundheit (nutriCARD) für weitere drei Jahre mit insgesamt rund 5,6 Millionen Euro. Das Verbundprojekt der Universitäten Halle, Jena und Leipzig kann damit seine Forschungs- und Entwicklungsarbeiten fortsetzen. Ziel ist es, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern. In der ersten Förderphase von 2015 bis 2018 wurden unter anderem qualitativ hochwertige Wurstwaren mit einem verbesserten Nährstoffprofil entwickelt und auf den Markt gebracht. Initiiert wurde auch eine Interventionsstudie, die den Einfluss einer Ernährungsumstellung auf Risikofaktoren von Herz-Kreislauf-Erkrankungen untersucht. Zwischenergebnisse dieser Studie belegen eine deutliche Verbesserung von Cholesterin-, Blutdruck- und Langzeitblutzuckerwerten sowie eine Reduktion des Körpergewichtes und des Körperfettanteils.

In der zweiten Förderphase sollen durch den Austausch von Nährstoffen und durch Rezeptoptimierung weitere Produktgruppen wie Convenience-Produkte, Backwaren, Soßen und Eis entwickelt werden. Im Bereich der Grundlagenforschung geht es um die Identifizierung und Validierung von ernährungsrelevanten Biomarkern und Gen-Nährstoff-Interaktionen. Den dritten Schwerpunkt des Clusters bildet die Ernährungsbildung und -kommunikation. Im Vergleich zur ersten Förderphase wird vor allem der Bereich Kommunikation gestärkt.

Im April 2019 wurde der Forschungsverbund von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und Sachsens Landwirtschaftsminister Thomas Schmidt für besondere Verdienste und Entwicklungen in der Ernährungswirtschaft Mitteldeutschlands ausgezeichnet. Auf dem wichtigsten Branchenevent der Agrarwirtschaft in Ost- und Mitteldeutschland, der Messe agra in Leipzig, wurde der Sonderpreis an nutriCARD verliehen.

Prof. Dr. Gabriele Stangl
Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften
Tel.: +49 345 55-22707
E-Mail: gabriele.stangl@landw.uni-halle.de

Prof. Dr. Wim Wätjen
Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften
Tel.: +49 345 55-22380
E-Mail: wim.waetjen@landw.uni-halle.de

 

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