Die Mythen rund um das Schreibenlernen

04.05.2022 von Ines Godazgar in Im Fokus, Wissenschaft, Kontext
Die Debatte, wie Kinder am besten schreiben lernen, bewegt von jeher die Gemüter. Die Sprachdidaktikerin Prof. Dr. Anke Reichardt sucht nach neuen Wegen für den Schriftspracherwerb. Außerdem fordert sie ein gesellschaftliches Umdenken im Umgang mit Rechtschreibfehlern.
Ein Junge bei Schreibübungen - wie Kinder am besten schreiben lernen, wird viel diskutiert.
Ein Junge bei Schreibübungen - wie Kinder am besten schreiben lernen, wird viel diskutiert. (Foto: Daniel Mendler/stock.adobe.com)

Die Frage, wie Kinder am besten schreiben lernen, taucht wiederkehrend auf und wird auch in den Medien regelmäßig diskutiert – zum Beispiel in Titelgeschichten wie „Die Recht Schreip-Katerstrofe“ im „Spiegel“, auf die es eine enorme Leserresonanz gab. Das zeigt: Rechtschreibung ist ein Thema, das viele Menschen berührt. Der Erwerb der Schriftsprache wird dabei oft auf eine simple Formel reduziert: „Fibel? – Oder Schreiben nach Gehör?“ Diese Einseitigkeit ist jedoch ein Mythos und noch dazu fachlich falsch. Die Aufregung mündet zumeist in einer unangemessenen Lehrerschelte. Das ist ärgerlich und wird der Komplexität des Themas nicht gerecht. Ich erlebe die (angehenden) Deutschlehrkräfte jedenfalls ganz anders: Sie wollen lernen, wie sie die Kinder bestmöglich unterstützen können. Dazu benötigen sie jedoch unglaublich viel Fachwissen – und Zeit für Weiterbildung und die Entwicklung ihres Unterrichts.

In der Didaktik unterscheiden wir zwischen verschiedenen Methoden, wie das Schreiben in der Schule vermittelt werden kann. Sie werden in den Schulen aber ohnehin zumeist in Mischformen unterrichtet. Ein Beispiel: Selbst, wenn Grundschulkinder nach der klassischen Fibel lernen, so verfügen diese Bücher inzwischen über die sogenannte Anlaut-Tabelle, die eigentlich eher zu einer lautbasierten Methode wie dem Spracherfahrungsansatz gehört und das frühe freie Schreiben ermöglicht. Dass es dabei zu Fehlern kommt, gehört zum Schrifterwerb dazu. Daran zeigt sich, dass es sich überhaupt nicht lohnt, in den Methodenstreit einzusteigen. Wir sind da in der Unterrichtsforschung längst weiter.

Die eine für alle Kinder passende Methode gibt es nicht. Studien zeigen aber auch, dass es große Leistungsunterschiede zwischen einzelnen Klassen gibt, darüber müssen wir eigentlich reden.

Derzeit geht man davon aus, dass leistungsstarke Kinder gut mit offenen Unterrichtskonzepten zurechtkommen. Aber wir müssen uns vor allem auf die Schwächeren konzentrieren. Das betrifft mindestens 20 Prozent. Wir wissen, dass diese Kinder von einem Unterricht profitieren, der gut strukturiert ist und der die Systematik der Schrift offenlegt.

An dieser Stelle müssen wir noch über einen weiteren Mythos sprechen, wonach die deutsche Rechtschreibung aus lauter Ausnahmen bestehe. Das ist falsch! Tatsächlich sind nur rund zehn Prozent unserer Wörter unsystematisch, dabei handelt es sich zum Teil um Wörter, die aus anderen Sprachen entlehnt worden sind. Die anderen etwa 90 Prozent sind regelhaft. Das zugehörige Fachgebiet, die Graphematik, arbeitet seit den 1980er Jahren intensiv an der Beschreibung des deutschen Schriftsystems. Dieses Wissen hilft uns jetzt im Unterricht.

Die unglaubliche Dynamik in der Rechtschreibforschung, die es in den vergangenen 20 bis 30 Jahren gab, ist leider noch nicht in den Schulen angekommen. Das liegt auch an den Schulbüchern. Solange sie nicht auf den neuesten Stand der Forschung gebracht werden, können die Lehrkräfte nicht danach unterrichten. Insofern muss man hier eine ganz klare Forderung an die Schulmittelverlage und die Bildungspolitik richten.

Im Grunde reden wir über Unterrichtsqualität. Als Stichwort möchte ich hier das Prinzip der „Kognitiven Aktivierung“ nennen. Dabei erklärt die Lehrkraft weniger, wie die Rechtschreibung funktioniert. Sie stellt vielmehr gut ausgewählte Wörter zusammen, an denen die Kinder Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkennen sollen und aus denen sie dann zusammen – moderiert von der Lehrkraft – eine Systematik ableiten können, zum Beispiel offene und geschlossene Silben. Derzeit geht man davon aus, dass diese Form des impliziten und interaktiven Lernens sehr wirksam ist. Erste Studien, die sie mit dem bisherigen Unterricht vergleichen, in dem es vor allem um das Einprägen der Wörter oder das Anwenden von Regeln geht, stimmen sehr optimistisch.

Die Rechtschreibforschung ist mein Herzensthema. Trotzdem finde ich, dass wir die Rechtschreibung als Gesellschaft zu wichtig nehmen, denn dabei handelt es sich ja lediglich um einen sprachlichen Aspekt von vielen. Sie ist natürlich für das störungsarme und schnelle Lesen wichtig. Aber eigentlich geht es in Texten doch vorrangig um Inhalte und Aussagekraft.

Deshalb würde ich es generell begrüßen, wenn Menschen, die Rechtschreibfehler machen, nicht so stigmatisiert würden. Wir verbinden das oft mit mangelnder Intelligenz. Das ärgert mich wirklich, und da müssen wir als Gesellschaft umdenken. Wenn ich jemanden wegen seiner Rechtschreibfehler herabsetze, dann sagt das mehr über mich selbst als über den anderen. Und außerdem: Niemand kann alle Wörter des aktiven Wortschatzes richtig schreiben. In meinen Seminaren und Fortbildungen diktiere ich den Studierenden und den Lehrkräften immer ein kompliziertes Wort. Nur zwei Prozent von ihnen gelingt dabei die korrekte Schreibweise.

Der Prozess des Rechtschreiblernens ist nie abgeschlossen. Schriftspracherwerb findet auch schon vor und außerhalb der Institution Schule statt. Neben Familien können zum Beispiel auch Lesepaten unsere Kinder mit Schrift und Büchern in Kontakt bringen. Ihnen vorlesen, etwas mit der Hand aufschreiben, mit ihnen Piktogramme übersetzen. Aber auch ganz einfach mit offenen Augen entdecken, wie viel Sprache uns umgibt.

Die Rechtschreibung ist dabei nur ein winziger Ausschnitt. Kinder sollten befähigt werden, etwas Gelerntes verständlich zu präsentieren, mit anderen zu diskutieren oder in Texten überzeugend zu argumentieren. All das sind wichtige Kompetenzen für das spätere Leben.

 

Der Text stammt aus der Print-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "scientia halensis" und steht in der Rubrik „Kontext“. Darin setzen sich Wissenschaftler der Martin- Luther-Universität mit einem aktuellen Thema aus ihrem Fach auseinander, erklären die Hintergründe und ordnen es in einen größeren Zusammenhang ein.

Anke Reichardt
Anke Reichardt (Foto: Picture People Leipzig)

Prof. Dr. Anke Reichardt hat seit 2020 den Lehrstuhl „Schriftspracherwerb unter den Bedingungen von Heterogenität" am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der MLU inne, zuvor hat sie die Professur bereits seit 2019 vertreten. Zu ihren Schwerpunkten gehören neben dem Schriftspracherwerb die literale schulische Sozialisation und die Entwicklung der Schreib- und Rechtschreibkompetenz in der Grundschule.

Seit 2021 ist sie im Symposion Deutschdidaktik Sprecherin der Arbeitsgruppe „SchriftSPRACHerwerb im Elementar- und Primarbereich“. Neben ihrer Tätigkeit in Forschung und Lehre bringt sich die Wissenschaftlerin in die Weiterbildung von Lehrkräften ein.

 

 

Kontakt:
Prof. Dr. Anke Reichardt
Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik
Tel.: +49 345 55-23919
E-Mail: anke.reichardt@paedagogik.uni-halle.de

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