Die Natur vermessen
An diesem schwül-warmen Sommertag kommen die Teilnehmer des Mastermoduls Freilandökologie nochmal richtig ins Schwitzen. Nicole Schindler und Sam Levin kämpfen sich durch den Wald. Die beiden Biologie-Studierenden biegen ein paar Äste zur Seite, um die einzelnen Diptam-Pflanzen besser zählen und vermessen zu können. Dictamnus albus lautet die korrekte lateinische Bezeichnung der ein Meter hohen Staude mit den großen rosa Blüten. Von Mitteleuropa bis China ist die Pflanze zu Hause, und überall steht sie unter Naturschutz – in Deutschland bereits seit 1936. In einigen Bundesländern gilt das Rautengewächs heute als ausgestorben.
Aber im Naturpark Saale-Unstrut-Triasland sind noch einige Populationen der Art zu finden. „Wir befinden uns in einer der artenreichsten Regionen Deutschlands mit einer extrazonalen Vegetation – aufgrund des trockenen Klimas finden Sie hier Pflanzen, die für Mitteleuropa sonst eher untypisch sind“, sagt Prof. Dr. Isabell Hensen. Mediterrane Sträucher sind in dieser Gegend, eine Fahrstunde südwestlich von Halle, ebenso zu finden wie osteuropäische Steppenpflanzen. „Südgeneigte Hänge und kalkreiche Böden stellen besonders günstige Standortbedingungen dar, die sich positiv auf die Biodiversität auswirken“, erklärt die Professorin für Pflanzenökologie.
Seit zwölf Jahren kehrt sie gemeinsam mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Dr. Monika Partzsch immer wieder zu denselben Diptam-Populationen zurück. Diese liegen teils so versteckt, dass sie ohne Ortskenntnis nicht zu finden wären: An den vier Standorten Ennsberg, Langer Berg, Nüssenberg und bei Balgstädt führen die Studierenden in diesem Jahr in kleinen Gruppen ihre Feldstudien durch. Über Handy halten Hensen und Partzsch zu allen Kontakt. Nicole Schindler, Sam Levin und Martin Andrzejak untersuchen die Diptam-Population bei Balgstädt. Sie arbeiten entlang eines zuvor festgelegten Transekts – einer markierten Linie, an der alle Messpunkte ausgerichtet sind.
Ihr Untersuchungsgebiet liegt an einem Hang und verläuft über mehrere Lebensräume: Die Diptam-Pflanzen wachsen hier im schattigen Wald, am Waldrand – in Form eines Saums – und vereinzelt auch auf dem angrenzenden Trockenrasen. „Wir haben das längste Transekt und wissen noch nicht, ob wir heute fertig werden“, sagt der 25-jährige Andrzejak. Alle drei waren in diesem Jahr bereits für eine Feldwoche in Portugal gemeinsam mit Prof. Dr. Henrique Pereira, der 2013 von der Uni Halle und dem Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig berufen wurde.
Die Studierenden profitieren dem Zentrum, das seit seiner Gründung durch die drei Universitäten Halle, Jena und Leipzig und das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) im Jahr 2012 Biodiversitätsforscher aus aller Welt anzieht. Sie alle untersuchen die globale Artenvielfalt. „Die Ökologie befasst sich zurzeit mit drei großen Herausforderungen: dem Klimawandel, der Stickstoffbelastung durch Überdüngung und dem Verlust von Artenvielfalt. Letzteres ist ein besonders dringendes Problem, von dem alle Organismen betroffen sind“, sagt Hensen.
Feldstudien sind ein wichtiges Instrument, um die komplexen Beziehungen zwischen den Arten zu erforschen: „Die Pflanzenarten, die wir untersuchen, wachsen im Freiland unter ganz anderen Bedingungen als im Labor oder Gewächshaus. In der Natur interagieren sie mit Tieren und mit anderen Pflanzen, die ihre Entwicklung entscheidend beeinflussen können.“ Für die Studierenden bedeutet das konkret, dass nicht allein der Diptam von Interesse ist: Auch die Bestäuber der Pflanzen sind zu erfassen, ebenso die restliche Vegetation im Untersuchungsgebiet.
Die Biologie-Studierenden sollen wissen, was im Berufsleben einmal auf sie zukommt, falls sie sich für die Forschung im Freiland entscheiden. „Auch wer nicht in die Wissenschaft geht, wird oft draußen unterwegs sein – egal ob als Gutachter oder Botaniker“, so die Professorin. Mit Hilfe der Feldwochen können die Studierenden testen, ob ihnen diese Arbeit liegt. Denn Freilandökologen dürfen nicht zimperlich sein. „Wer später einmal in diesem Bereich tätig sein will, muss zum Beispiel lange Strecken mit Gepäck laufen können und manchmal auch im Gelände übernachten“, sagt Hensen, die in den südamerikanischen Anden viele Feldstudien geleitet hat.
Auch die Untersuchungen bei Balgstädt sind arbeitsintensiv: Heute sind die verschiedenen Lebensstadien des Diptams zu zählen, ihr Wasserhaushalt zu untersuchen und Laubblätter und Blüten für mikroskopische Untersuchungen im Labor zu sammeln. Vor allem wollen Martin Andrzejak, Nicole Schindler und Sam Levin heute die Datenerhebung zur Vegetation am Waldsaum abschließen. Das heißt: Alle Pflanzenarten auf den drei zuvor abgesteckten Plots unterschiedlicher Größe sind zu bestimmen und zu notieren. Mehr als 200 verschiedene Arten hat die Gruppe auf dem Trockenrasen, am Saum und im Wald bereits gefunden. Die Bestimmung von Pflanzen, mit denen die Artenkenntnis vertieft werden soll, ist ein entscheidender Bestandteil des Moduls. „Artenkenntnis ist wichtig. Denn was man nicht kennt, kann man nicht schützen“, sagt Hensen.
Nicole Schindler kennt sich besonders gut mit Kräutern aus, Martin Andrzejak eher mit Gräsern. Doch bei manchen grünen Blättern beginnen beide zu rätseln. Helfen können Monika Partzsch und „der Rothmaler“, ein Standardwerk der Pflanzenbestimmung. Der Botaniker Prof. Dr. Werner Rothmaler hatte die erste Ausgabe vor 66 Jahren veröffentlicht, als er noch als Professor an der Uni Halle lehrte. Jetzt blättert Schindler in dem knapp 1.000 Seiten dicken Band, während Partzsch das nächste unbestimmte grüne Blatt an die Studierenden weiterreicht.
„Euphorbia cyparissias – Zypressen-Wolfsmilch. Vor vier bis sechs Wochen hat diese Art bereits geblüht“, sagt sie schließlich. „Wie sieht die Blüte aus?“, will Sam Levin wissen. Mit nordamerikanischen und tropischen Pflanzenarten kennt sich der US-Amerikaner besser aus als mit der Pflanzenwelt Mitteleuropas. Genau wie seine Kommilitonen ist auch er lieber draußen unterwegs als im Labor. „Im Feld ist es viel abwechslungsreicher.“
Und doch kann selbst diese Arbeit eintönig werden. Etwa, wenn die Messungen mit dem automatischen Porometer anstehen. Das Gerät, das an ein Diptam-Blatt geklemmt wird, misst den Verlust von Wasserdampf durch die Spaltöffnungen an der Blattunterseite. Die Daten geben Aufschluss über den Zustand der Pflanze und darüber, wie sie auf sich verändernde Umweltbedingungen reagiert.
„Wir messen 20 Mal in jedem Lebensraum“, sagt Andrzejak. Vor den Messungen ist je eine Kalibrierung notwendig, die Konzentration und eine schnelle Reaktion bei der Bedienung des Geräts erfordert. Einfacher sind da die zentimetergroßen iButtons zu handhaben, die, markiert mit kleinen Fähnchen, auf dem Boden platziert werden. Die kleinen Mikrochips messen die Temperatur. Die Daten können anschließend direkt am Computer ausgelesen werden.
Viele Mess- und Analysemethoden wenden die Studierenden während der Feldwochen zum ersten Mal praktisch an. Im Vorbereitungsseminar haben sie sich mit den Feldmessgeräten und mit neuen Computerprogrammen vertraut gemacht. Denn den Großteil ihrer Arbeitszeit verbringen sie im Labor und am Computer, bei der Analyse der Daten. Erst nach Auswertung aller erhobenen Umweltfaktoren, die mit Hilfe komplexer Statistikprogramme vorgenommen wird, können Aussagen über die Vegetationsökologie der Diptam-Populationen getroffen und Forschungshypothesen bestätigt oder verworfen werden.
Die Ergebnisse der studentischen Arbeiten fließen in die Forschung von Monika Partzsch ein. Nach den ersten fünf Untersuchungsjahren hat sie 2009 die erste Studie über den Diptam im unteren Unstruttal in der Fachzeitschrift Tuexenia veröffentlicht. Ein Großteil der Populationen ist seitdem stabil geblieben. Zur Freude der halleschen Botaniker. „Populationen brauchen eine bestimmte Größe. Bei weniger als etwa 50 Einzelpflanzen funktioniert der Genfluss irgendwann nicht mehr, und die Population stirbt schließlich aus“, erklärt Isabell Hensen. Auch einige Diptam-Populationen, die in diesem Jahr eigentlich erneut untersucht werden sollten, gelten mittlerweile als zu sensibel, um gestört zu werden. Unabhängig davon gilt bei der Feldarbeit: „Wir bewegen uns so achtsam durch das Gelände, dass von uns auch nicht mehr zerstört wird als durch das Rotwild, das hier unterwegs ist“, sagt Hensen.
Kontakt: Prof. Dr. Isabell Hensen
Institut für Biologie
Tel.: +49 345 55-26210
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