Die Natur will uns nicht nur Gutes
Wer Chemie hört, denkt zumeist an etwas Künstliches, potenziell Gefährliches. Das gilt insbesondere für die Verbindung von Chemie und Lebensmitteln. Dabei muss man zunächst ganz nüchtern feststellen, dass chemische Prozesse die Grundlage des Lebens bilden und keinen Gegensatz zur Natur darstellen. Genau dieser Gegensatz aber wird immer häufiger thematisiert, weil der Trend zur Natürlichkeit offenbar Dinge wie Konservierungsstoffe, Säureregulatoren oder Emulgatoren ausschließt.
Diese Stoffe haben jedoch wichtige Funktionen, wenn es darum geht, möglichst viele Menschen mit haltbaren, ansprechenden, schmackhaften und preiswerten Lebensmitteln zu versorgen. Noch vor wenigen Jahrzehnten galt es als Segen, wenn Nahrungsmittel nicht verdarben. Denn die Natur will uns nicht nur Gutes – sie hält ein ganzes Arsenal an Mikroorganismen bereit, die beispielsweise Fleisch verfaulen und Brot schimmeln lassen. Die Risikowahrnehmung hat sich allerdings stark verschoben, weil Lebensmittelvergiftungen heutzutage sehr selten sind. Dass Menschen mehr Angst vor gut erforschten Konservierungsstoffen haben als vor Bakterien und Pilzen, ist nicht rational.
Der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher ist der originäre Zweck der Lebensmittelchemie. Viele der jungen Menschen, die dieses Fach studieren, arbeiten später nicht in der Nahrungsmittelindustrie, sondern in der amtlichen Lebensmittelüberwachung oder in Analyselaboren. Je mehr über die Zusammensetzung von Lebensmitteln und chemische Veränderungen bei der Herstellung, Lagerung und Zubereitung bekannt ist, umso sicherer werden sie. Dieser Erkenntnisgewinn ist keineswegs abgeschlossen, ein gutes Beispiel dafür ist das Acrylamid, das wahrscheinlich die Entstehung von Krebs begünstigt. Es entsteht in verschiedenen Lebensmitteln während der Zubereitung bei hohen Temperaturen – etwa bei Pommes frites. Der Lebensmittelchemie ist zu verdanken, dass man die Bildung von Acrylamid besser verstanden hat und die Gehalte in Lebensmitteln deutlich senken konnte.
Selbst wenn das von vielen bezweifelt wird – auch der Einsatz von Zusatzstoffen in Nahrungsmitteln ist streng reguliert. Er basiert auf wissenschaftlichen Studien und ist mit einem gewaltigen Sicherheitspuffer versehen: Wird im Tierversuch ein Grenzwert für die gesundheitliche Unbedenklichkeit eines Stoffes ermittelt, wird dennoch nur ein Hundertstel dieser Menge als akzeptable Tagesaufnahmemenge angesehen. Zusätzlich wird für jedes Lebensmittel eine Verzehrmenge kalkuliert, wobei auch hier häufig ein weiterer Puffer eingebaut wird. Somit sind unerwünschte Wirkungen praktisch ausgeschlossen. Außerdem ist gesetzlich vorgeschrieben, dass jeder Zusatzstoff einen Nutzen haben und technologisch erforderlich sein muss. Manche Zusatzstoffe sind in bestimmten Lebensmitteln sogar komplett untersagt.
Über Sinn und Zweck von Zusatzstoffen kann man natürlich dennoch streiten: Nicht alle dienen der Haltbarmachung oder sind für den Herstellungsprozess unabdingbar, etwa Farbstoffe. Aber ohne den Zusatz von Beta-Carotin wäre beispielsweise Pflanzenmargarine farblos und würde dadurch sehr unnatürlich aussehen. Wir bevorzugen jedoch eine leicht gelbliche Note, weil uns die an Butter erinnert. Auch Geschmacksverstärker fallen in diese Kategorie – man könnte auf sie verzichten, aber dann schmecken Lebensmittel weniger intensiv. Glutamat etwa vermittelt den herzhaften Geschmack proteinreicher Lebensmittel und kommt natürlicherweise in Fleisch, Pilzen oder Hartkäse vor. Wer Glutamat aus seiner Nahrung verbannen will, sollte also auch keinen Parmesan über Nudeln oder Salat hobeln. Notwendig ist dieser Verzicht in der Regel nicht: Untersuchungen zeigen sehr eindeutig, dass Glutamat bei den allermeisten Menschen keine Beschwerden verursacht.
Überhaupt gibt es derzeit keinen Grund zur Annahme, dass einer der aktuell zugelassenen Zusatzstoffe bei normalem Konsumverhalten kausal für gesundheitliche Probleme verantwortlich ist. Natürlich gibt es in seltenen Fällen Unverträglichkeiten, aber davor ist man auch bei unverarbeiteten Lebensmitteln nicht geschützt. Wer diesbezüglich dennoch skeptisch ist und es sich zeitlich und finanziell leisten kann, der sollte sein Essen aus frischen Zutaten kochen. Bei hausgemachten Lebensmitteln sehen wir über die eine oder andere Unzulänglichkeit hinweg und sind auch nicht auf eine lange Lagerstabilität angewiesen. Wir dürfen uns aber keinen Illusionen hingeben: Eine frisch gekochte Hühnersuppe ist weder sonderlich lange haltbar noch für ein paar Cent zu haben. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind jedoch an Lebensmittel gewöhnt, die immer gleich aussehen, immer gleich gut schmecken und obendrein günstig sind. Das ist ohne Zusatzstoffe – oder Zutaten gleicher Funktion – nicht zu leisten.
Generell gilt: Wer sich gesund ernähren will, der sollte abwechslungsreiche Kost bevorzugen und nicht nur hochprozessierte Fertiggerichte auf den Tisch bringen. Zugleich ist es nicht verkehrt, eine pragmatischere Sicht auf die industrielle Herstellung stets verfügbarer Lebensmittel zu entwickeln und den einen oder anderen Mythos zu hinterfragen. Es gibt nicht wenige Menschen, die Rohrzucker für natürlicher und gesünder halten als weißen Haushaltszucker. Wissenschaftlich betrachtet sind beide nichts anderes als Saccharose, die wiederum aus Glukose und Fruktose besteht. Wer das anerkennt, sollte sich fragen, wie sinnvoll es ist, Rohrzucker über den halben Erdball zu transportieren – wo die Zuckerrübe doch quasi vor der Haustür wächst.
Der Text stammt aus der Print-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "scientia halensis" und steht in der Rubrik „Kontext“. Darin setzen sich Wissenschaftler der Martin- Luther-Universität mit einem aktuellen Thema aus ihrem Fach auseinander, erklären die Hintergründe und ordnen es in einen größeren Zusammenhang ein.
Prof. Dr. Daniel Wefers ist seit 2019 Professor für Lebensmittelchemie an der MLU. Im Fokus seiner Forschung stehen die Bildung und Analyse von Kohlenhydraten sowie deren Vorkommen und Funktionalitäten in Lebensmitteln.
Der gebürtige Baden-Württemberger hat Lebensmittelchemie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) studiert, wo er 2016 promoviert wurde und sich 2021 mit einer Arbeit über Synthese, Spaltung und molekulare Struktur funktioneller Oligo- und Polysaccharide habilitiert hat.
Auf Twitter wirbt Wefers unter @DanielWefers für einen pragmatischeren Umgang mit industriell hergestellten Nahrungsmitteln.
Kontakt:
Prof. Dr. Daniel Wefers
Institut für Chemie
Tel. +49 345 55-25772
E-Mail: daniel.wefers@chemie.uni-halle.de