Romanrecherche an der Uni: Ein Krimi mit Christian Thomasius

15.10.2024 von Matthias Münch in Varia, Wissenschaft
Für seinen Roman „Die Lungenschwimmprobe. Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde“ hat der norwegische Schriftsteller Tore Renberg in Mitteldeutschland recherchiert. Unterstützt wurde er dabei von Forschenden des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA), denn: Eine Hauptfigur der historischen Geschichte ist der Jurist und das spätere Gründungsmitglied der Juristischen Fakultät der halleschen Universität Christian Thomasius.
Tore Renberg während seiner Recherchereise im Jahr 2018 - hier in Greitschütz, einem Ortsteil von Elstertrebnitz
Tore Renberg während seiner Recherchereise im Jahr 2018 - hier in Greitschütz, einem Ortsteil von Elstertrebnitz (Foto: Andrea Thiele)

„Mein Name ist Tore Renberg, ich bin Schriftsteller aus Norwegen und recherchiere zu einem historischen Fall. Können Sie mir dabei helfen?“ So lautete zusammengefasst die E-Mail, die im April 2018 im IZEA einging. „Wir waren Anfragen von anderen Wissenschaftlern gewohnt“, erzählt Forschungskoordinatorin Dr. Andrea Thiele. „Aber dass ein ausländischer Schriftsteller – von dem wir bald herausfanden, dass er in Norwegen regelmäßig auf den Bestsellerlisten steht – an uns herantritt, das war schon besonders und auch ein bisschen aufregend.“

Anna aus Groitzsch und ein junger Anwalt aus Leipzig

Renberg hatte, so schrieb er in seiner Mail, in einer Abhandlung von der Lungenschwimmprobe gelesen. Dieses Verfahren wurde vom Zeitzer Stadtarzt Johannes Schreyer erstmals in die Gerichtsmedizin eingeführt (siehe Infokasten) und bewahrte ein 15-jähriges Mädchen aus dem Leipziger Umland vor der Hinrichtung: Anna Voigt, Tochter eines Gutsherren im Amt Pegau, war des Kindsmordes angeklagt. Nachbarn und das Gesinde hatten die zunehmende – und plötzlich abnehmende – Leibesfülle der jungen Frau bemerkt und im Garten der Voigts eine vergrabene Leiche entdeckt. Eine Verurteilung wegen Kindsmords hätte im späten 17. Jahrhundert nicht nur die Todesstrafe, sondern eine besonders grausame Hinrichtung bedeutet. Anna beteuerte, ihr Kind tot zur Welt gebracht zu haben und unschuldig zu sein.

Ein Selfie mit Thomasius: Tore Renberg im Löwengebäude der Uni
Ein Selfie mit Thomasius: Tore Renberg im Löwengebäude der Uni (Foto: Tore Renberg)

Tore Renberg hat sich allerdings nicht wegen des Stadtarztes Schreyer an das IZEA gewandt, sondern weil Anna Voigt von einem jungen Juristen aus Leipzig verteidigt wurde. Dieser Anwalt war kein Geringerer als Christian Thomasius, Hauptvertreter der Frühaufklärung und erster Professor der juristischen Fakultät der Universität Halle. „Für uns war klar: Wir unterstützen den Autor, soweit wir können“, sagt Andrea Thiele. „Zugleich war natürlich auch unser Forschungsinteresse an dieser Geschichte geweckt.“

Thiele und ihre Kollegen Dr. Frank Grunert, Dr. Matthias Hambrock und Dr. Martin Kühnel versorgten Renberg mit einer Menge Quellenmaterial und geschichtlicher Literatur. „Renberg selbst hatte bereits umfassend recherchiert und auch die rund 100-seitige Darstellung des Falls der Anna Voigt intensiv studiert, die Thomasius 1720 im ersten Band seiner ,Juristischen Händel' veröffentlicht hatte. Diese Sammlung von größtenteils juristischen Problemen aus Thomasius’ eigener Praxis war uns natürlich bekannt, aber mit einzelnen Fällen hatten wir uns wissenschaftlich noch nicht weiter beschäftigt.“

Radtouren und Archivbesuche

Die erste persönliche Begegnung gab es im August 2018: Tore Renberg kam gemeinsam mit seiner Lektorin in das IZEA auf dem Gelände der Franckeschen Stiftungen. Ein gegenseitiges Kennenlernen als Auftakt einer intensiven Kooperation: In den folgenden Jahren besuchte der Norweger das IZEA insgesamt viermal. „Tore Renberg ging es zunächst vor allem darum, möglichst viel über die Geschichte der Voigts in Erfahrung zu bringen – nicht nur über das Schicksal Annas, sondern auch über ihre Familie“, erklärt Thiele. „Dass es ihrem Vater gelang, den jungen Thomasius als Rechtsbeistand zu gewinnen, zeugt von den finanziellen Mitteln, aber auch von Voigts Wunsch, Unmögliches zu erreichen und gegen Etabliertes vorzugehen.“

Thiele und Renberg recherchierten gemeinsam – etwa im Staatsarchiv Leipzig, wo sie Kauf- und Pachtverträge für die Rittergüter finden konnten, die den Voigts gehörten. Im Hauptstaatsarchiv Dresden stießen sie unter anderem auf das 1691 unterzeichnete Testament von Hans Heinrich Voigt, dem Vater Annas. Aus diesem war zu schließen, dass das Mädchen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lebte. Zudem gewannen sie einen tieferen Einblick in die Kindsmordprozesse und komplizierten juristischen Zuständigkeiten des 17. und 18. Jahrhunderts.

Eine mehrtägige Radtour im Juli 2019 führte Renberg nach Halle, Leipzig, Pegau und Zeitz. Außerdem kontaktierte und besuchte das Recherche-Team Kirchengemeinden in Zwenkau, Pegau, Elstertrebnitz und Profen. „Wir haben gehofft, weitere Informationen über Anna Voigt in den Kirchenbüchern zu finden – leider ohne Erfolg“, erzählt Andrea Thiele. In guter Erinnerung ist ihr das große Interesse des Autors nicht nur am eigentlichen Fall, sondern an den Spuren des Dreißigjährigen Krieges, die in Mitteldeutschland besonders zahlreich sind. „Das Highlight unserer Landpartie aber war, plötzlich vor den Überresten des ehemaligen Gutes der Voigts in Elstertrebnitz zu stehen – dem Ort, an dem die junge Anna aufgewachsen ist. Das war schon ein Gänsehautmoment.“

Wer war dieser Thomasius – und wie hat er gesprochen?

Nicht nur zur Familiengeschichte und zum Prozessverlauf konnte das IZEA-Team etwas beitragen: Ein historischer Roman lebt auch von gesellschaftlichen Kontexten, Umgangsformen und natürlich von der Sprache jener Zeit. „Es war eine glückliche Fügung, dass wir im Rahmen eines DFG-geförderten Projektes gerade den ersten Band des Briefwechsels von Thomasius veröffentlicht hatten, als Renberg Kontakt zu uns aufnahm“, erzählt Dr. Martin Kühnel, einer der Editoren der Reihe, in der bislang zwei von vier geplanten Briefbänden sowie ein Personenlexikon erschienen sind. „Insgesamt sind das über 1.000 Korrespondenzen mit 277 Personen – Größen der Aufklärung wie Pufendorf und Leibniz, des Pietismus wie Francke und Spener, aber auch unbekannte Pastoren, Lehrer, Juristen und Studenten. Sie liefern wichtige Einblicke in das Denken und die Gepflogenheiten der damaligen Zeit.“ Renberg war ein begeisterter Leser der umfangreich kommentierten Briefe und nutzte sie als zentrale Quelle, um die Persönlichkeit des jungen Thomasius zu konstruieren – er beschreibt ihn als einen Mann von aufbrausendem Wesen, aufrichtig und humorvoll, der sich lautstark und scharfzüngig gegen Vorurteile, gegen die Folter und jede Art von Missbrauch aussprach und gegen Ungerechtigkeiten Sturm lief.

Im Zuge der deutschen Ausgabe der „Lungenschwimmprobe“ – die norwegische ist 2023 erschienen – war die Expertise der IZEA-Forschenden nochmals gefragt: „Der Luchterhand-Verlag hat uns die Möglichkeit gegeben, das Manuskript zu sichten, um mit unserem Wissen um barockes Deutsch vor allem auf den Sprachgebrauch ein Auge zu werfen. Allerdings hatten wir dafür nicht sehr viel Zeit“, sagt Kühnel. Der Thomasius-Experte erinnert sich an Diskussionen im Team etwa um die Verwendung solch einfach scheinender Begriffe wie „Lokal“, „selig“, „Gattin“ oder auch „Beamter“. Am Ende musste aber auch ein Kompromiss gefunden werden zwischen wissenschaftlichem Anspruch und künstlerischer Freiheit. „Die Lungenschwimmprobe ist keine historische Studie, sondern ein Roman, der Leser unserer Zeit in den Bann ziehen soll.“

Eine Freundschaft und kein Happy End

Hunderte E-Mails haben Tore Renberg und Andrea Thiele in einer Art wochenendlicher Dauerkorrespondenz in den vergangenen sechs Jahren ausgetauscht. „Es ist über die Zeit eine Freundschaft entstanden“, sagt sie und erklärt, dass die Arbeit mit dem Norweger auch neue Impulse für die eigene Forschung gibt: „Ich habe inzwischen eine dicke Akte mit Informationen zu Johannes Schreyer, dem Zeitzer Stadtarzt, der die Obduktion der Kindsleiche im Fall der Anna Voigt durchgeführt hat.“ Schreyer war nicht nur Arzt und Wegbereiter der Forensik, er beschäftigte sich auch mit gesellschaftlichen, juristischen und philosophischen Themen und übersetzte medizinische Schriften niederländischer Wissenschaftler ins Deutsche. Thiele: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass Schreyer und Thomasius mehr verbunden hat als nur die gemeinsame Arbeit an einem Kindsmordfall.“

Schreyer und Thomasius ist es zu verdanken, dass der Fall der jungen Anna ein Meilenstein der Rechtsgeschichte und medizinischen Forschung wurde. Ein Happy End hat es vermutlich dennoch nicht gegeben. „Nach dem, was wir wissen, ist die junge Frau des Landes verwiesen worden“, sagt Andrea Thiele. „Vor ihrem erst nach Jahren tatsächlich geführten Prozess hat man sie in einen Kerker gesperrt. Sowohl Vertreibung als auch Kerkerhaft hat man damals nicht lange überlebt.“

Die Lungenschwimmprobe

Die Lungenschwimmprobe ist eine forensische Methode, mit der überprüft wird, ob ein Kind lebend oder tot geboren wurde. Dem Leichnam wird die Lunge entnommen und in Wasser gelegt. Schwimmt sie, hat das Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits geatmet und die Lunge mit Luft gefüllt. Sinkt sie, ist das Kind vermutlich tot geboren worden.

Der holländische Arzt Jan Swammerdam hat 1679 über dieses Phänomen berichtet, der Zeitzer Arzt Johannes Schreyer (1631–1694) hat es zum gerichtsmedizinischen Verfahren entwickelt, das nach wie vor anerkannt ist. Allerdings gilt die Lungenschwimmprobe heute als zu unsicher, weil einerseits Verwesungsvorgänge die Lunge schwimmfähig machen können und andererseits nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Kind zwar lebend geboren, aber noch vor seinem ersten Atemzug getötet wurde.

 

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