Digitalisierung im richtigen Maß: Streitgespräch in Wittenberg
Bei strahlendem Sonnenschein begann der Zug des Akademischen Senats in den historischen Talaren der Universität Halle am Wittenberger Rathaus. Der Marktplatz und die Collegienstraße, durch die es die Angehörigen der Universität bis zur Stiftung Leucorea führte, waren dem goldenen Oktoberwetter entsprechend am Reformationstag gut gefüllt. Für Rektor Prof. Dr. Christian Tietje war es eine Premiere: Erstmals führte er den Zug gemeinsam mit Wittenbergs Oberbürgermeister Torsten Zugehör an.
Mit einer Würdigung des am 12. Oktober verstorbenen Politologen Prof. Dr. Hans-Hermann Hartwich begrüßte Prof. Dr. Ernst-Joachim Waschke, Vorsitzender der Stiftung Leucorea, die Gäste der Disputation – eine Veranstaltung, die die hallesche Universität dem ehemaligen Gründungsdekan und Prorektor für Entwicklungsplanung und Strukturreform verdankt. „Er hat viel für die Stiftung Leucorea getan. Sie wird sein Andenken in Ehren halten“, sagte Waschke. Die Disputation widme sich auch in diesem Jahr nicht nur einem „aktuellen, sondern auch einem schwierigen und problematischen Thema“. Die Digitalisierung werde die Welt vielleicht noch viel stärker verändern, als dies zu Luthers und Melanchthons Zeiten der Buchdruck tat, vermutete er.
Oberbürgermeister Zugehör begrüßte die Gäste nach einer „taktisch klugen Pause“ – anlässlich des 200. Jubiläums der Vereinigung der Universitäten Halle und Wittenberg fand die Disputation im Jahr 2017 ausnahmsweise in der Aula des Löwengebäudes in Halle statt – wieder in der Lutherstadt. Rektor Prof. Dr. Christian Tietje eröffnete im Anschluss das Streitgespräch. Als zentrales Element der Universität sei die Disputation „eine konstitutive Form des gesellschaftlichen Diskurses in der Demokratie“, der auch die Idee der Reformation zugrunde gelegen habe. Sie galt es auch in diesem Jahr wieder durch spannende Diskussionen „mit Leben zu füllen“.
13 Thesen stellte die Bildungskritikerin und Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Dr. Heike Schmoll auf. Sie skizzierte die fachdidaktischen Bestrebungen Philipp Melanchthons, damalige moderne Medien in der Bildung einzusetzen und das souveräne und gezielte Lesen als Schlüsselkompetenz bei seinen Studierenden zu stärken. Mit der Digitalisierung scheine sich die Gesellschaft derzeit jedoch „immer mehr in Leser und Nicht-Leser zu spalten“, kritisierte sie das Schwinden der konzentrierten Beschäftigung mit Büchern und Texten und in diesem Zusammenhang auch die Reaktion der Politik mit einer „Digitaloffensive“ wie dem DigitalPakt Schule des Bundes und der Länder. Gerade angesichts heutiger demokratiegefährdender Tendenzen sei der richtige Umgang mit basalen Kulturtechniken wie dem Lesen für Schülerinnen und Schüler wichtig. Sie seien die Voraussetzung eines „klugen Einsatzes digitaler Hilfsmittel“ durch Lehrer mit einem „hohen Maß an didaktischem Geschick und Erfahrung“.
Die Schulleiterin des Luther-Melanchthon-Gymnasiums Wittenberg Anja Aichinger stimmte Schmolls Thesen zu: „Digitaler Unterricht ist nicht gleich guter Unterricht.“ Es sei wichtig, der neuen gesellschaftlichen Situation entsprechend zu handeln und die Aufgabe des Unterrichts, den Schülerinnen und Schülern in Zeiten digitaler Gefahren und Scheinfakten beizustehen. „Dass wir dafür gut ausgerüstet sein müssen, versteht sich von selbst.“
Die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Nika Daryan von der Universität Halle kritisierte den aus ihrer Sicht zu eng gefassten Medienbegriff Heike Schmolls. Der Art und Weise, wie Schmoll die Lesekompetenz beurteilen würde, liege ein bestimmtes, durch das Medium Buch geprägtes Bildungsverständnis zugrunde. Stattdessen plädierte Daryan für den Versuch, die Eigenlogik des Digitalen besser verstehen zu lernen, um den Einsatz digitaler Hilfsmittel in der Schule nicht voreilig zu entkräften.
Kritik an Heike Schmolls Standpunkt übte auch Dr. Matthias Ballod, Professor für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur an der Uni Halle. „In 12 Thesen stimme ich mit Ihnen überein, Ihre Schlussfolgerung stelle ich jedoch in Frage“, sagte er. Lehrerinnen und Lehrer müssten die digitalen Anwendungen kennen, um sie sinnvoll im Unterricht einsetzen zu können. Trotzdem würden auch sie „immer Lernende bleiben“, stellte Ballod fest. Die nötigen Kompetenzen würden nicht beim Lesen aufhören, sondern Lehrkräfte und Lernende seien schon heute auf den kompetenten Umgang mit digitalen Medien und „Jetzt-Quellen“ angewiesen.
Nach einer lebhaften Debatte stellten die Disputanten einen weitgehenden Konsens fest, dass Lehrerinnen und Lehrer eine entscheidende Rolle beim Einsatz digitaler Hilfsmittel im Unterricht haben. Schmoll pflichtete Ballod bei, dass „Lehrerfortbildungen notwendig sind“. Eine vollständige Methodendiskussion könne jedoch in diesem Rahmen nicht erfolgen, bemerkte sie im Hinblick auf Daryans Kritik. Auf eine Nachfrage aus dem Publikum hin stellte sie fest, dass man auf dem Podium vielleicht mehr Kompetenzen aus dem Fachbereich der Informatik gebraucht hätte. Nach Schmolls abschließendem Statement schloss Rektor Tietje die diesjährige Disputation: „Ich denke, dass Melanchthon mit uns zufrieden wäre.“
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