Dreharbeiten zur Unigeschichte: Das Verbot des „Spirituskreises“
Sie stecken in 50er-Jahre-Anzügen aus dem Opernfundus, haben Abzeichen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) am Revers und formulieren Sätze aus einer Zeit, die sie selbst nicht mehr erlebt haben. „Es geht um die Zukunft unserer sozialistischen Universität. Strafrechtlich relevante Sachverhalte gefährden den Weg dahin“, sind nur zwei davon, die am Tisch in der Mitte des historischen Sessionsaals fallen. Ausgesprochen werden sie von einem angehenden Sprechwissenschaftler, der an diesem Tag in die Rolle des früheren Rektors Leo Stern geschlüpft ist. Es ist Drehtag für ein besonderes Filmprojekt: Unter Anleitung von des Medienwissenschaftlers Prof. Dr. Gerhard Lampe werden Szenen einer Senatssitzung vom 22. April 1958 nachgestellt. Sie sind Teil eines Doku-Dramas über den Stalinismus an der halleschen Universität in den 1950er Jahren, das sich vor allem mit der Zerschlagung des sogenannten „Spirituskreises“ befasst, eines Kränzchens „bürgerlicher“ Wissenschaftler. Zentrale Geschehen sind dabei ein Besuch des stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten Walter Ulbricht in Halle und die tags darauf stattfindende Senatssitzung. Lampe spricht von einer Art Schauprozess, an dessen Ende ein Verbot des „Spirituskreises“ stand – mit zuvor konstruierten Anschuldigungen in einer Kampagne der SED-Führung, die von der Staatssicherheit vorbereitet wurde.
Bereits vor Jahren ist an der halleschen Uni vom Rektorat eine Kommission zur Aufarbeitung der Universitätsgeschichte in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts gebildet worden. Sie steht unter Leitung von PD Dr. Friedemann Stengel von der Theologischen Fakultät. 2013 fand eine Gedenkveranstaltung für Hochschullehrer der Universität Halle statt, die von 1933 bis 1945 entlassen wurden – in der Mehrzahl, weil sie jüdische Vorfahren hatten oder politisch verfolgt wurden. Darüber hinaus beschäftigt sich die Kommission auch mit politisch verfolgten Uni-Angehörigen der DDR-Zeit. Er habe schon bei der Gedenkveranstaltung 2013 gedreht, sei vor zwei Jahren von Stengel angesprochen worden, ob er auch Zeitzeugeninterviews zu der zweiten Diktatur aufnehmen könne, erinnert sich Medienwissenschaftler Lampe. Der emeritierte Professor hat noch einen Lehrauftrag am Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften.
Lampe sagte zu – aus großem Interesse, wie er erklärt. Die Professoren aus den 1950er Jahren seien zwar alle verstorben. Allerdings konnten von Studierenden der Medien- und Kommunikationswissenschaften inzwischen Zeitzeugeninterviews mit den Söhnen der ehemaligen Spirituskreis-Mitglieder Prof. Dr. Hans Gallwitz und Prof. Dr. Erich Hoffmann geführt werden, zudem mit dem Sohn von Prof. Dr. Franz Runge, der dem Kreis nahestand, sowie einem Studenten von Gallwitz, der gegen den Stalinismus protestierte und nach seiner Festnahme 1952 zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Als Experte wurde Prof. Dr. Heinrich Dilly befragt, emeritierter Professor für Kunstgeschichte der Universität, der sich intensiv mit der Kunsthistorikerin Ingrid Schulze und ihrer Rolle bei der Zerschlagung des „Spirituskreises“ befasst hat. In den Zeitzeugeninterviews habe es bewegende Momente gegeben, sagt Lampe. Berichte von Überwachungen durch die Staatssicherheit, davon, wie ganze Familien gelitten haben. „Da wird Geschichte fühlbar. Man spürt, dass das Unrecht noch so präsent ist, dass die Interviewpartner nur mit Mühe darüber sprechen können.“ Die Studierenden hätten förmlich an den Lippen der Zeitzeugen gehangen, überrascht, wie präzise deren Erinnerungen noch sind.
Ein Teil der zwölf Mitglieder des „Spirituskreises“ war nach dessen Zerschlagung in den Westen gegangen, ein anderer hat sich laut Lampe angepasst. Professor Gallwitz sei wenige Wochen später in einem Zug an Kreislaufversagen verstorben – dessen Sohn führe das auf die Konflikte zuvor zurück. „Wir versuchen klarzumachen, wie solche Dinge geschehen können. Es gehört dazu, sie dem Vergessen zu entreißen“, sagt der 68-jährige Medienwissenschaftler – das sei auch seine Arbeit als Filmemacher. Lampe gehörte zudem zu einer Anfang der 2000er Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschergruppe, die die Programmgeschichte des DDR-Fernsehens aufgearbeitet hat.
In Halle ist nun ihm zufolge ein Doku-Drama mit drei wesentlichen Bestandteilen geplant: eben jenen Zeitzeugeninterviews, dokumentarischem Material aus Wochenschauen oder Zeitungen und den nachgestellten Szenen. Letztere waren eine Idee der Studierenden, das Drehbuch haben sie innerhalb von anderthalb Semestern selbst geschrieben – nach eingehender Recherche. Allein das Protokoll der zwölfstündigen Senatssitzung von 1958 ist 130 Seiten lang gewesen, so Lampe. „Es liest sich wie ein Schauprozess und hat schon von sich aus Dramenstruktur.“
Fertig werden soll der Film im Sommer 2019.
Senat stimmt Inschrift für Gedenktafel zu
In Gedenken an Personen, die sich in der DDR schützend vor politisch verfolgte Studierende gestellt haben, soll eine Gedenktafel angefertigt werden. Der Senat der Universität hat in seiner Sitzung am 11. Juli einem vom Rektorat vorgeschlagenen Text für die Inschrift der Tafel zugestimmt, die sich später auf dem Universitätsplatz befinden soll. Er lautet:
Zum Gedenken an die Mitglieder der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR aus politischen Gründen verfolgt wurden, und die, die sich für politisch Verfolgte eingesetzt haben.
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