Ein zerteiltes Pferd
„Wir sind ganz erleichtert, dass das Pferd ohne Schaden hierhergekommen ist“, sagt Frank Steinheimer, Leiter des Zentralmagazins Naturwissenschaftlicher Sammlungen (ZNS). Vorher stand das lebensgroße, anatomisch korrekte Lehrmodell im Museum für Haustierkunde am Steintor Campus. Seit das Pferd zuletzt 1996 restauriert worden war, hatte sich niemand mehr getraut, das in der Manufaktur des französischen Anatomen Dr. Louis T. J. Auzoux in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angefertigte Modell zu bewegen, geschweige denn auseinanderzubauen. Das neue Restauratoren-Team jedoch hatte wenig Hemmungen, an das seit 2012 offiziell geschützte Kulturgut Hand anzulegen. In wenigen Tagen wurden im Oktober alle Einzelteile des Pappmaché-Tiers abgenommen, gesichert und verpackt, um das über 200 Kilogramm schwere Modell in die Räume des ZNS zu transportieren.
Die Konservierung war nötig geworden, da das Pferd an seinem alten Standort extremen Raumklimaschwankungen ausgesetzt war. „Das waren teilweise 50 Grad Celsius Unterschied“, sagt Steinheimer. Für ein handbemaltes Modell aus Papier und Metall bedeutet das Zerstörung. Ein Team von Restauratoren aus Halle, Leipzig und Berlin hat den Zuschlag für das bundesweit ausgeschriebene Projekt bekommen. Es soll das Objekt für die Ausstellung im ZNS konservieren. Damit steht es auch für weitere Forschung zur Verfügung, etwa dem Vergleich mit anderen Auzoux-Modellen oder der Untersuchung der Herstellungstechnik.
Die Einzelteile des Lehrmodells lassen sich mit Metallscharnieren, -stiften und -verschlüssen verbinden. „Sie bestehen aus einer gepressten Masse aus Papierfasern, Leim und anderen Zusätzen“, erklärt Katarzyna Cholewinska, eine der Restauratorinnen. Diese Pappmaché-Teile wurden in Auzoux´s Manufaktur mit mehreren Schichten Temperafarbe bemalt und mit einem Überzug aus Leim versehen. Zur Stabilisierung wurden, besonders für große Teile wie etwa die Beine, Eisenstangen eingesetzt. „Wir waren überrascht, wie viel Metall da drin ist“, sagt Steinheimer. Durch Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen dehnen Metall und Papier sich unterschiedlich aus, die Schichten aus Leim und Farbe quellen, trocknen und platzen auf. „Schüsselartig“ nennt Katarzyna Cholewinska das, die aufgeplatzten Schichten biegen sich nach oben. „Das ist ein typisches Schadensphänomen an Auzoux-Modellen“, sagt sie.
Dass das Pferd nur in Teilen vor ihr liegt, bereitet Cholewinska keine Sorgen. „Die Auzoux-Modelle waren so gebaut, dass sie auch ein Laie zusammensetzen konnte“, sagt sie. Steinheimer quittiert das mit einem Lachen. Doch tatsächlich ist alles genau beschriftet. „An jedem Körperteil befinden sich nummerierte Metall-Steckstifte. Das Hülsenloch, in das der jeweilige Stift gehört, ist mit derselben Nummer gekennzeichnet“, sagt die Restauratorin. Zudem ist es mit weiteren circa 3.700 Papieretiketten versehen, die auf Französisch die einzelnen Organteile benennen. Auzoux hat 1845 auch einen Katalog zu seinen Pferdemodellen geschrieben, in dem jedes Einzelteil vermerkt ist. „Zum größten Teil stimmt die Liste mit dem Befund überein“, sagt Cholewinska. Ein paar Einzelteile fehlen allerdings und einige Papieretiketten sind nicht mehr erhalten.
Studenten nutzten das Pferd zuletzt als Jackenablage
Das Modell sei ziemlich genau durchdacht, so Cholewinska. Schon am zusammengebauten Pferd sei das zu erkennen. Einmal längs durch den Leib verläuft eine Schnittstelle, nur über Metallverschlüsse sind Rücken und Bauch verbunden. So lässt sich das Oberteil abnehmen, wie es die Restauratoren für den Transport gemacht haben. Es ist aber auch möglich, das Modell nur aufzuklappen und das Oberteil mithilfe des Pferdeschwanzes in einem extra dafür vorgesehenen Loch im Hinterteil des Pferdes zu arretieren. Möglicherweise gewannen Studenten um die Jahrhundertwende so Einblicke ins detailliert gestaltete Pferdeinnere. Das Gehirn lässt sich beispielsweise in mehrere Teile zerlegen und aufklappen, im Herz sind sogar die einzelnen Herzklappen nachgebildet und im Inneren des Hufes lassen sich die Lamellenstrukturen zwischen Huf und Skelett herausnehmen. „Durch die gekonnt eingesetzten Materialien und die mehrschichtige, qualitätvoll ausgeführte Malerei sieht das sehr naturgetreu aus“, sagt Cholewinska. Nervenfasern und Blutgefäße sind mithilfe von Bastfasern und Drähten plastisch dargestellt. Im Lungenflügel ist ein einziges Gewirr aus blauen und roten Adern zu sehen.
Die Aufgabe der Restauratoren ist insbesondere, alle Beschriftungen wieder lesbar zu machen. Sie reinigen dafür die zahlreichen Papieretiketten, außerdem kleben sie vorsichtig die aufgeplatzten Schichten wieder an. An den im Inneren des Pferdes verborgenen Organen müssen sie dabei nur wenig tun, diese sind vergleichsweise gut erhalten. „Damit haben wir gar nicht gerechnet“, sagt Steinheimer. Nur die Signatur Auzoux‘s, üblicherweise auf dem rechten Oberschenkel, wurde bisher auch unter UV-Strahlung nicht gefunden. Vermutlich ist sie verloren gegangen. Bevor das Modell zuletzt 1996 restauriert wurde, war die Außenhülle in einem schlechten Zustand und ein großer Teil der ursprünglichen Fassung nicht mehr erhalten. „Das Pferd stand in einem Hörsaal“, sagt Steinheimer. Gerüchten zufolge haben Studenten ihre Jacken darauf abgelegt. Die Außenhülle zeigt heute fast ausschließlich eine Neufassung der Restaurierung von 1996.
Die Konservierung wird maßgeblich von der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) und dem ZNS selbst finanziert, insgesamt stehen dafür 70.000 Euro zur Verfügung. Im Mai dieses Jahres sollen die Arbeiten abgeschlossen werden. Das Pferd wird perspektivisch in einem Raum des ZNS zusammen mit anderen Tierlehrmodellen stehen. Dafür sind im Rahmen der derzeitigen Umbauarbeiten am ZNS neue Fenster eingeplant, sodass ein gleichbleibendes Raumklima hergestellt werden kann, welches dem Modellpferd möglichst wenig schadet. Ein Einblick ins Innere ist außerdem bald möglich ohne Hand anzulegen. Das ZNS hat die Chance genutzt und alle Einzelteile gescannt, sodass in einem virtuellen 3D-Modell bald jedes Detail im Körper betrachtet werden kann – ganz ohne Gefahr für das Pappmaché-Tier.