Eine emotionale Reise zu den Vorfahren
Unter denen, die anreisten, waren auch die Töchter des früher in Halle lehrenden jüdischen Mediziners Ernst Wertheimer. Ernst Wertheimer war ein stiller Mensch. „Er hat nie viel geredet“, sagt seine Tochter, Prof. Dr. Ada Goldfarb über ihn. Noch viel weniger hat er über das Unrecht gesprochen, das man ihm in seiner früheren Heimat angetan hat. „Ich bin sicher, dass er gelitten hat“, meint seine Tochter. Über die Gründe für das Schweigen des Vaters kann sie nur Vermutungen anstellen: „Ich denke, Reden wäre für ihn zu schmerzhaft gewesen.“
Ada Goldfarb und ihre Schwestern Prof. Dr. Dorrit Nitzan und Prof. Dr. Ayala Abrahamov wurden in Jerusalem geboren, wohin ihr Vater im Sommer 1934 emigrierte, nachdem ein Jahr zuvor in Deutschland und damit auch an der Universität Halle das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Kraft trat.
Wie andere jüdische oder politisch unliebsame Kollegen wurde er aus dem Hochschuldienst entfernt. Wertheimer, ein Mediziner, baute sich in Israel eine neue Existenz auf und leitete fortan das pathologisch-chemische Labor des Hadassah-Krankenhauses der damals noch jungen Hebrew University of Jerusalem.
Gemeinsam mit seiner Frau Ruth, einer gebürtigen Hallenserin, bekam er vier Töchter. Anfangs konnten die Wertheimers nur wenig hebräisch. Eine Tatsache, deren Folge noch heute deutlich wird, wenn man sich mit seinen Töchtern unterhält. Denn es ist vor allem die Älteste, Ayala, geboren 1935, der das Deutsche noch gut von der Zunge fließt. Mit der Zeit wurde Wertheimers Hebräisch immer besser, so dass Dorrit, die Jüngste, geboren 1947, deutlich weniger von der Sprache ihrer Eltern versteht.
Die drei Frauen waren Ende November erstmals gemeinsam in Halle. Auf Einladung der Universität waren sie gekommen, um an einem Gedenkakt für die zwischen 1933 und 1945 ausgeschlossenen Hochschullehrer teilzunehmen. Die Reise kam auch mit Hilfe einer finanziellen Unterstützung durch die Saalesparkasse zustande.
Auch 80 Jahre danach rufen die schlimmen Geschehnisse von damals noch viele Emotionen wach. „In der Nacht vor der Gedenkveranstaltung war ich sehr aufgewühlt. So sehr, dass ich nicht einschlafen konnte“, erzählt die 66-jährige Dorrit Nitzan und ergänzt: „Es ist nicht zu spät, an das Unrecht der Vertreibung jüdischer Hochschullehrer zu erinnern“, sagt sie. Gemeinsam mit ihren Schwestern begab sich Dorrit Nitzan in Halle auch auf die Spuren ihrer Eltern. Sie besuchte deren einstiges Wohnhaus in der Leipziger Straße und sie sah im Universitätsarchiv die Personalakte ihres Vaters ein. „Nachdem wir nun all diese Orte gesehen haben, fühlen wir eine große Nähe zu unseren Eltern.“
Ähnlich ging es Waltraud Roesel. Sie hatte im Vergleich zu den Töchtern von Ernst Wertheimer zwar eine vergleichsweise kurze Anreise. Aber auch für sie war die Fahrt von ihrem Wohnort im niedersächsischen Salzgitter nach Halle eine Reise in die Vergangenheit und damit auch eine Reise zu ihrem Großvater. Er hieß Otto Bremer und war ein geachteter Sprachwissenschaftler und Dialektforscher. Die hiesige Alma mater verdankt ihm zum Beispiel das noch heute bestehende Schallarchiv.
Auch er wurde wegen seiner jüdischen Wurzeln 1933 aus dem Hochschuldienst entlassen. Seine Enkeltochter Waltraud, inzwischen 74 Jahre alt, hat ihren Großvater nie kennen gelernt. „Aber seit ich mich im Zuge der bevorstehenden Gedenkveranstaltung zunehmend mit ihm und seiner Geschichte beschäftigt habe, tritt sein Bild immer mehr zutage“, sagt sie.
Seither kommen immer neue Details ans Licht, die den Großvater „lebendig werden lassen.“ So sei sie auf Fotos gestoßen, die Otto Bremer in seiner Wohnung in der Wittekindstraße zeigen. Feiernd. Gemeinsam mit seinen Studenten.
Von ihrer Mutter weiß Waltraud Roesel, dass Bremer sehr lustig gewesen sein muss, gern unter Menschen – und keine Spur elitär war. – Aussagen die sie bestätigt findet, wenn sie diese Fotos anschaut. So könne sie sein Leben im Nachgang ein Stück begleiten.
Waltraud Roesel hat erst sehr spät vom Schicksal ihres Großvaters erfahren. „Meine Mutter hat zwar viel über ihn geredet, aber nicht darüber, dass er als Jude verfolgt worden war“, sagt Waltraud Roesel. Diese Information habe sie erst erhalten, als sie Ende der 1990er Jahre ihr Elternhaus ausräumte und dort einen umfangreichen Nachlass fand. „In einem Stammbaum stieß ich darauf, dass wir jüdische Wurzeln haben“, erinnert sie sich.
Ihre Mutter Elfriede hatte seinerzeit noch in Halle studiert, wurde aber aufgrund ihrer jüdischen Abstammung nicht zum Referendariat zugelassen. „Heute empfinde ich es als sehr traurig, dass ich mit ihr nie über all diese Dinge sprechen konnte“, sagt Waltraud Roesel. Umso angemessener findet sie die Möglichkeit des Gedenkens, die ihr in Halle mit dem Projekt „Ausgeschlossen –Gedenken an die zwischen 1933 und 1945 entlassen Hochschullehrer“ und der zugehörigen Veranstaltung im November gegeben worden ist.
Gemeinsam mit dem halleschen Sprachwissenschaftler Prof. Hans-Joachim Solms hat sie die Geschichte ihres Großvaters für die Gedenkschrift recherchiert und viele Dokumente dafür zur Verfügung gestellt. Dabei kam sie ihrem Großvater näher als sie jemals dachte. „Ich bin froh, dass es dieses Projekt gibt. Es hat mir meinen Opa näher gebracht.“
Wie John Rothman, Sohn des Physiker-Professors Hans Rothman, den Gedenkakt erlebt hat und was er über das Projekt "Ausgeschlossen" denkt, beschreibt auf der Webseite der Wochenzeitung "J. the Jewish news weekly of Northern California". Für John Rothmans Bericht bedankte sich der deutsche Generalkonsul in San Francisco, Peter Rothen, daraufhin im Januar in einem Leserbrief in der Wochenzeitung.
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