Erfolgreiches Crossover
In Halle regnet es bereits den zweiten Tag in Strömen. An diesem Mittwoch vor Himmelfahrt gibt die Alexander von Humboldt-Stiftung in Bonn die Namen der Preisträger der neuen Humboldt-Professuren bekannt. Die Germanistin Elisabeth Décultot steht zeitgleich im Foyer des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA), den Regenschirm noch in der Hand, und lächelt. In Paris habe es schließlich auch geregnet, als sie am Vortag dort abgereist sei, sagt sie. Dennoch wird sie sich wohl die Frage immer wieder gefallen lassen müssen, warum sie von der Seine an die Saale wechseln will. Ihre Antwort: „Würden Sie damit etwa unterstellen, dass Halle weniger interessant sein kann als Paris?“ Sie lächelt wieder und macht sich auf den Weg zur Bibliothek. Dort werden die Pressefotos aufgenommen.
Bereits 2008 kommt Elisabeth Décultot erstmals ans IZEA zu einer Tagung - „Formen des Nichtwissens der Aufklärung“. „Höchst anregend“, sagt sie, sei diese gewesen. Es folgen weitere Reisen nach Halle zu Tagungen und zu wissenschaftlichem Austausch unter Kollegen. Sie beginnt mit Germanistik-Professor und IZEA-Geschäftsführer Daniel Fulda zu arbeiten, koordiniert mit ihm ein deutsch-französisches Forschungsprogramm und Veranstaltungen in Halle und in Paris. Elisabeth Décultot ist schon in Halle angekommen, bevor sie überhaupt offiziell da ist.
Das verwundert nicht: Die 1968 geborene französische Literaturwissenschaftlerin, zurzeit noch am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris tätig, gilt weltweit als eine der am besten vernetzten Expertinnen für die Schriftkultur des 17. bis 19. Jahrhunderts. Genauso wenig sollte verwundern, dass eine französische Wissenschaftlerin eine Professur für deutsche Literaturwissenschaft in Deutschland erhält: „Dieser Umstand alleine zeugt von den Wandlungen der Nationalphilologien. Die ehemals selbstverständliche Beziehung zwischen der Literaturwissenschaft und der Idee der Nation hat an Selbstverständlichkeit eingebüßt“, sagt Décultot.
Selbstverständlich hingegen ist für sie Interdisziplinarität. Sie kombiniert Fragen der Germanistik mit Problemen der Kunstgeschichtsschreibung, der Klassischen Archäologie sowie der philosophischen Ästhetik. Crossover mit Erfolg: Mit ihrem Buch über Johann Joachim Winckelmann, den „Vater der modernen Kunstgeschichtsschreibung“ (2000), stellt sie die Erforschung des europäischen Klassizismus sowie die Entstehungsgeschichte der modernen historischen Wissenschaften auf eine neue Grundlage.
Die Essenz daraus: Das Schreiben von Büchern ist untrennbar mit dem Lesen von Büchern verbunden. Décultot weist in akribischer Arbeit nach, dass Winckelmann, der in unzähligen Heften französische, englische, italienische, deutsche, lateinische und griechische Werke exzerpierte, diese Auszüge in seine eigenen Werke übernahm oder gegen diese Texte anschrieb. „Exzerpte sind eine außerordentlich ergiebige Quelle: Sie dokumentieren nicht nur, was ein Schriftsteller gelesen hat, sondern auch wie er geschrieben hat“, stellt Décultot fest.
Die Humboldt-Professorin will grundsätzlich mit ihren Arbeiten zeigen, wie Ideen, Texte und Wissen in anderen Kontexten produktiv übernommen, adaptiert, modifiziert und weitergeführt werden. Mit Blick auf die Aufklärung sind die Beziehungen zwischen den europäischen Sprach- und Kulturräumen noch längst nicht zufriedenstellend erforscht. In Halle will sie mehrere Schwerpunkte setzen und zum Beispiel die transnationalen Transferprozesse untersuchen, die sich im 18. Jahrhundert etwa auf den Buchhandel, auf Übersetzungen oder auf individuelle Reisen stützen konnten.
Kernstück ist dabei die Edition der Werke des Philosophen Johann Georg Sulzer. In eine Kooperation mit der Pariser Nationalbibliothek soll auch die Auseinandersetzung mit den Lese- und Schreibpraktiken vom 17. bis zum 19. Jahrhundert in Deutschland münden. Der Grund: Die Bibliothek besitzt die meisten der Exzerpthefte Winckelmanns, die digitalisiert werden sollen. Und schließlich wagt sich Décultot auch an den Epochenbegriff und das Befragen der Begrifflichkeiten Aufklärung, Klassizismus, Klassik. „Das sind Bezeichnungen, die nicht zuletzt mit Rücksicht auf international divergierende Begriffstraditionen und historische Ungleichzeitigkeiten selbst der Aufklärung bedürfen.“
Doch Elisabeth Décultot ist zwar Forscherin durch und durch, eines aber möchte sie nicht missen: die Lehre. Sie freut sich bereits heute auf die Lehrveranstaltungen, die sie in Halle bald geben wird. „Jetzt in Paris muss ich das nicht, mache es aber freiwillig.“ Und ja, sie freut sich sehr auf Halle, das ideale Bedingungen für ihre Arbeit bietet: „Halle ist selbst wichtiger Teil der Aufklärungsgeschichte und besitzt heute Forschungseinrichtungen, die für diesen Bereich sehr fruchtbar sind. Wegen ihrer zwei Kinder, die das Französische Gymnasium in Berlin besuchen werden, wird sich ihre Familie allerdings nicht komplett in Halle niederlassen. Eine Wohnung in Halle wird es für Elisabeth Décultot trotzdem geben. Sie fühlt sich wohl: „Für mich hat die Stadt mit ihren vielen alten Bauten aus ganz verschiedenen Epochen einen unwiderstehlichen Charme.“
3,5 Millionen Euro für Humboldt-Professorin
Elisabeth Décultot wurde im Mai 2014 in der ersten Auswahlrunde der Preisträger für 2015 bei Deutschlands höchstdotiertem internationalen Forschungspreis, der Alexander von Humboldt-Professur, nominiert. Das bedeutet: Zur Finanzierung der Professur mit der Denomination „Neuzeitliche Schriftkultur und europäischer Wissenstransfer“ an der Uni Halle stellt die Humboldt-Stiftung insgesamt 3,5 Millionen Euro für fünf Jahre zur Verfügung. Elisabeth Décultot wird voraussichtlich ab dem Wintersemester 2014/15 dem Germanistischen Institut angehören und einen regen Anteil an der wissenschaftlichen Leitung des IZEA nehmen. Die Förderung soll weltweit führende Wissenschaftler aller Disziplinen, die bislang im Ausland forschten, zum Wechsel an deutsche Hochschulen motivieren.