„Es gibt keinen Fahrplan“
In den Naturwissenschaften heißt Feldforschung manchmal wortwörtlich, auf dem Feld zu stehen. In welches Feld begeben sich Sozialwissenschaftler?
Georg Breidenstein: Für sie kann sehr vieles zum Forschungsfeld werden, das Feld hängt stark vom Interesse des Forschers ab. Für Schulpädagogen sind zum Beispiel das Klassenzimmer oder der Pausenhof klassische Forschungsfelder. In den Erziehungswissenschaften kann die Jugendhilfe ein Feld sein. Aber auch Streetball kann zum Forschungsfeld werden. Die klassische Idee von Feldforschung ist, die soziale Praxis, für die man sich interessiert, vor Ort zu beobachten, daran teilzunehmen und auch mit den Menschen zu sprechen. Aber heute sind viele Phänomene, für die wir uns interessieren, gar nicht mehr so einfach zu verorten. Wie ist das Feld zu verstehen, wenn man sich für eine soziale Praxis interessiert, die hauptsächlich im Internet stattfindet? Darüber wird zurzeit intensiv diskutiert.
Wie ist Ihre Position dazu?
Mir ist klar, dass Feldforschung bei vielen Untersuchungen die digitale Kommunikation mit einbeziehen muss, weil sie natürlich auch eine soziale Praxis ist. Andererseits neige ich dazu, das klassische Verständnis von Feldforschung aufrecht zu erhalten, bei dem man den Schreibtisch verlässt, sich als Person auf das Forschungsfeld und dessen Bedingungen einlässt und dadurch Erfahrungen macht, die forschungsrelevant werden. Die eigene Erfahrung im Feld wird dann zum Gegenstand der Reflexion.
Welche Erkenntnisse kann man nur vor Ort sammeln?
Bestimmte Dinge kann man nur erfahren, indem man selbst teilnimmt. Man erhält einen ganz anderen Blick auf das Geschehen. Man kann zum Beispiel nur erfahren, wie sich die Perspektive auf das Klassenzimmer verändert, wenn man selbst den Sitzplatz wechselt. Ich habe für ein Projekt in der Kindheitsforschung einmal beim Fangen mitgespielt und dabei die eindrucksvolle Erfahrung gemacht, was es bedeutet, nicht gefangen zu werden. Dann hat man zwar seine Ruhe, ist aber auch nicht involviert. Man ist für die Fänger offensichtlich auch nicht attraktiv. Das ist ein Ergebnis teilnehmender Beobachtung.
Wie spiegelt sich diese Erfahrung dann in Ihrer Forschung wider?
Ich versuche zunächst, sie zu beschreiben. Dann kann ich systematisch darüber nachdenken, wie die verschiedenen Rollen in so einem Spiel verteilt sind oder was diese Rollen zum Beispiel mit der Geschlechterunterteilung zu tun haben.
Als Beobachter beeinflussen sie das Geschehen auch. Lässt sich dieser Einfluss relativieren?
Nein, diese Reaktivität muss man mitdenken. Ich kann aber auch aus den Reaktionen des Feldes auf den Beobachter sehr viel lernen. Meist ist der Wissenschaftler nur am Anfang interessant. Mit der Zeit gewöhnen sich die Leute daran – auch an Aufnahmegeräte. Man wird unauffälliger, je länger man in Feld ist.
Was sind die größten Herausforderungen bei der Feldforschung?
Der Zugang zum Feld ist oft eine große Herausforderung. Damit meine ich nicht nur das formale Einverständnis, dass man forschen darf. Der Zugang umfasst nach meinem Verständnis auch, das Vertrauen der Teilnehmer zu erlangen, sodass man zum Beispiel beobachten darf, was sie im Schulunterricht unter dem Tisch machen. Dieses Vertrauen muss man sich erarbeiten und da hängt viel von der Person des Feldforschers ab.
Wie kann man dabei als Forscher die notwendige Distanz bewahren?
In der Schulforschung muss man vor allem lernen, das Feld mit neuen Augen zu sehen. Jeder hat schließlich schon zwölf Jahre Felderfahrung gesammelt. Distanzierung gelingt hauptsächlich über das Verschriftlichen der Erfahrungen, Eindrücke und Ideen. Im zweiten Schritt folgt die Datenanalyse. Mit Hilfe von verschiedenen Sequenzierungs- und Analyseverfahren kann man über seine eigenen Protokolle dann methodisch nachdenken, um so einen analytischen Blick auf das Geschehen zu entwickeln.
Wie bringen Sie Studenten die Methoden der Feldforschung praktisch bei?
Ich glaube, Feldforschung lernt man nur in der konkreten Durchführung. Sie ist nicht standardisierbar. Das Vorgehen ist jeweils stark abhängig vom Forschungsgegenstand. Viele Entscheidungen werden erst im Prozess gefällt. Es gibt keinen Fahrplan. Aber es gibt offensichtlich einen Bedarf nach Anleitung. Die erste Auflage unseres Lehrbuchs zur Praxis der Feldforschung war schnell vergriffen. In der Praxis lernen die Studierenden die Methoden der Ethnografie, indem wir ihnen im Seminar kleine Projekte übertragen, zum Beispiel auf dem Markt oder in der Straßenbahn. Dort üben sie das Beobachten und Protokollieren. Anschließend sprechen wir darüber, wie man daraus Forschungsfragen und Theorien entwickeln kann. Mehrwöchige intensive Feldforschung kann aber erst im Rahmen von Examensarbeiten durchgeführt werden.
Was macht einen guten Ethnografen aus?
Die richtige Mischung aus: Sich offen auf das Geschehen im Feld einlassen und gleichzeitig sehr scharf an den eigenen wissenschaftlichen Perspektiven arbeiten. Es gibt einerseits die Gefahr, die auch „going native“ genannt wird – also die Perspektive der „Einheimischen“ vollständig zu übernehmen und dann keine analytische Distanz zum Forschungsgegenstand mehr entwickeln zu können. Die entgegengesetzte Gefahr besteht darin, dass man sich gar nicht auf das Geschehen einlässt, sondern in seinem Theoriegebäude bleibt, ohne sich von Feldforschung überraschen zu lassen. Denn es geht darum, etwas zu entdecken, das man zuvor nicht wusste und kannte.
Für viele Naturwissenschaftler ist die Feldforschung ein Highlight ihrer Arbeit. Geht Ihnen das auch so?
Ja, ich genieße das. Ich komme heute leider selbst nicht mehr oft dazu, weil ich Feldforschung meist eher anleite. Bei allen Projekten versuche ich aber mindestens einige Tage vor Ort zu sein, und da geht mir jedes Mal das Herz auf. Die ganze Komplexität des Geschehens, um das es geht, die hat man nur im Feld. Um ein Gespür dafür zu bekommen, muss man auch selbst vor Ort sein. Da reichen Protokolle nicht aus.
Kontakt:
Prof. Dr. Georg Breidenstein
Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik
Tel.: +49 345 23902
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