Indian Ocean Studies: Wie Ideen auf Reisen gehen
Burkhard Schnepel hat ein weites Forschungsfeld: Über fast 70 Millionen Quadratkilometer erstreckt sich der Indische Ozean. Er bedeckt rund 15 Prozent der Erdoberfläche und verbindet dabei Afrika und die arabisch-persische Welt mit Indien, Indonesien, Australien und den Ländern Ostasiens bis hin nach China. Dazwischen viele Inseln und Inselgruppen mit klangvollen Namen, die den Laien vor allem an Urlaub denken lassen: Madagaskar, die Seychellen, Mauritius, die Malediven sowie Sri Lanka.
Seit rund 5.000 Jahren werden Teile des Indischen Ozeans befahren. Spätestens als es den Seefahrern um die Zeitenwende gelang, dem für diese Region typischen Wetterphänomen des Monsuns das Geheimnis seiner gesetzmäßigen Wiederkehr abzutrotzen, wurde die Schifffahrt im Indischen Ozean insgesamt berechenbarer. So konnten Segelboote regelmäßig zwischen den drei Kontinente verbindenden Küsten und Inseln Handel treiben. Betrachtet man den Indischen Ozean also unter dem Aspekt der Schifffahrt, so ist er der älteste Ozean der Welt.
Mikrostudien liefern Gesamtbild
Schnepel muss nicht lange überlegen, wenn er gefragt wird, was ihn an einem derart großen Untersuchungsgebiet reizt: „Es ist die Komplexität. Die Region im Ganzen und in ihrer historischen Tiefe zu verstehen“, sagt er. Doch wie schafft man es, ein in vielen Aspekten so heterogenes Feld überhaupt zu erforschen? Anhand vieler einzelner sozialanthropologischer und ethno-historischer Mikrostudien entstehen zunächst kleine Einblicke, die anschließend zu einem großen Ganzen komplettiert werden können. Projekte werden dabei aus zwei Richtungen angegangen: Einerseits über empirische Mikrostudien, andererseits über das Bestreben, immer das große Ganze in historischer Tiefe und in räumlicher Breite zu verstehen. Mit den vielen Einzelprojekten lassen sich Zustände und Veränderungen beschreiben. Wie Puzzlestücke sollen sich diese Befunde zu einem Gesamtbild für die historisch gewachsenen Veränderungen, aber auch Kontinuitäten fügen.
„Von vorrangigem Forschungsinteresse für mich und meine Mitarbeiter sind die historisch gewachsenen und bis heute wirkenden Austauschbeziehungen“, sagt Burkard Schnepel. Dieses Phänomen ist es, das den Ethnologen seit Jahren fesselt. Er selbst ist an der Nordsee aufgewachsen und weiß, dass das alte Sprichwort, wonach Berge voneinander trennen, Meere hingegen verbinden, auch für sein Forschungsgebiet mehr als zutreffend ist. Denn der maritime Austausch hat die Region um den Indischen Ozean entscheidend beeinflusst.
Kooperation mit Max-Planck-Institut
Die untersuchten Phänomene sind dabei so verschieden wie das Untersuchungsgebiet selbst: So können das Essen und die kulinarischen Gewohnheiten in der ehemaligen britischen Kolonialstadt George Town auf der malaysischen Insel Penang ebenso zum Forschungsgegenstand werden, wie das lokale Demokratieverständnis auf den Malediven. Beide Themen waren übrigens Promotionsvorhaben.
Schnepel selbst untersuchte bei einem seiner vielen Forschungsaufenthalte auf der Insel Mauritius den für die Insel typischen Musik- und Tanzstil namens Sega. Er wurde einst von afrikanischen Sklaven auf die Insel gebracht. Inzwischen ist er von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt worden. „Er ist ein typisches Beispiel dafür, was der Austausch zwischen und das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft im Indischen Ozean hervorgebracht hat“, sagt Schnepel, dem es immer wieder gelingt, für seine Arbeiten große Mengen an Drittmitteln einzuwerben.
Seit 2013 ist der 62-jährige Wissenschaftler außerdem Fellow am halleschen Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. Dort wird sein Programm unter dem Titel „Connectivity in Motion: Port Cities of the Indian Ocean“ über sechs Jahre gefördert. Darin werden vor allem Hafenstädte untersucht. Dabei lassen sich so genannte Hubs, also Knotenpunkte unterschiedlicher Anrainer identifizieren, die eine große Vielfalt an Sprachen und Kulturen aufweisen und in denen Waren ein- und wieder ausgeführt werden.
Mayotte gehört zu Frankreich
Ein Forschungsprojekt in diesem Rahmen befasste sich 2015 mit Identität und Zugehörigkeit in der Union der Komoren, einem muslimisch geprägten Inselstaat an der Südostküste Afrikas. Es wird ab Januar 2017 für drei Jahre von der Deutschemn Forschungsgemeinschaft am von Schnepel geleiteten Zentrum für Interdisziplinäre Regionalstudien der MLU (ZIRS) weitergeführt und vertieft. Projektleiter Dr. Iain Walker von der Oxford University wird in diesem Rahmen auch einige Zeit auf der zu den Komoren gehörenden Insel Mayotte verbringen. Womit er sich dort näher beschäftigen will, ist ein wichtiges ideelles Problem: Die Bewohner Mayottes sind nämlich im Begriff, ihre komorische Identität zugunsten einer französischen abzulegen. Grund dafür ist die Tatsache, dass Mayotte nach einer Volksabstimmung im Jahr 2011 nun ein zu Frankreich gehörendes Departement ist. Mit allen Vorteilen für die Bewohner, die nun per Gesetz Franzosen fernab des Mutterlandes sind.
Besagte Volksabstimmung war der Höhepunkt eines politischen Prozesses, der bereits während der späten Kolonialzeit begann und in dessen Folge sich die Bewohner Mayottes von den anderen komorischen Inseln beherrscht fühlten. Schließlich weigerten sie sich im Jahr 1975, den unabhängig gewordenen Komoren beizutreten. Ihr Anspruch auf das Französisch-Sein ist mit tiefgreifenden sozialen und kulturellen Veränderungen verbunden: Französisches Zivilrecht ersetzte das bisher angewandte Gewohnheits- und islamische Recht. Traditionelle Systeme von Grundbesitz wurden abgeschafft. Außerdem sind die Bewohner Mayottes seither verpflichtet, Familiennamen anzunehmen.
„Das Projekt analysiert auf der Grundlage von Feldforschungen, wie individuelle und kollektive Erinnerungen der Zugehörigkeit konstruiert und erzählt werden“, erklärt Schnepel. Es geht den Widersprüchen nach, die der gleichzeitigen Ablehnung der komorischen Identität und dem Bedauern über den Verlust traditioneller Praktiken innewohnen. Und es wirft die Frage auf, ob der Widerstand gegen sozialen und kulturellen Wandel mit der Ablehnung der zugehörigen Identität in Einklang gebracht werden kann.
Burkhard Schnepel selbst wird mit Hilfe des Max-Planck-Fellowship-Programms seine langjährige Forschungsarbeit zur Insel Mauritius fortsetzen. Den Indian Ocean Studies in Deutschland hat er mit seiner Forschung einen großen Schub verliehen. Längst steht das Gebiet in Halle auf einer soliden Basis, auf der mehrere Akteure und Institutionen vernetzt arbeiten.
Renommierter Historiker forscht in Halle
In drei Jahren wird der Wissenschaftler emeritiert. Beim Generationenwechsel will er ein gut bestelltes Feld hinterlassen. Dazu soll neben dem aus Max-Planck-Institut und universitären Einrichtungen bestehendem Netzwerk auch eine von der Volkswagenstiftung finanzierte und am ZIRS angebundene Summer School beitragen, die 2016 erstmals stattgefunden hat und zu der Dozenten und Doktoranden aus aller Welt nach Halle kamen und auch 2017 wieder kommen werden. „Wir wollen für die Indian Ocean Studies eine weit hin sichtbare Plattform bieten, die intellektuelle Entwicklungsmöglichkeiten und internationale Vernetzung über die Generationen fördert“, sagt Schnepel.
Jüngster Beleg für die enorme Strahlkraft des Netzwerks: Im November 2016 wurde der Historiker Gwyn Campbell von der Mc Gill University in Montreal mit dem prestigeträchtigen Humboldt-Forschungspreis ausgezeichnet. Sein Preisgeld in Höhe von rund 60.000 Euro wird er dazu nutzen, in Halle weitere Kooperationen im Bereich der Indian Ocean Studies anzustoßen. Vorgeschlagen für die Ehrung wurde der Kanadier Campbell übrigens vom Hallenser Burkhard Schnepel.
Kontakt: Prof. Dr. Burkhard Schnepel
Institut für Ethnologie und Philosophie
Tel.: +49 345 55-24190
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