Intelligent wohnen im Alter
Wer in dieser Modellküche vor den Herd tritt, den empfangen keine Gerüche von leckeren Speisen. Dafür erscheint wie von Zauberhand eine Einblendung an der weißen Wand über dem Herd, die verrät, ob eine oder mehrere der Platten noch heiß sind. Auf der Kommode gegenüber steht die Zimmerpflanze – und mit ein paar Schritten auf sie zu wird auch hier über einen Beamer automatisch eine Nachricht an die Wand projiziert: Die Grünpflanze ist zu trocken und müsste gegossen werden.
Was noch etwas futuristisch klingt, ist derzeit Teil eines innerhalb des Forschungsbündnisses „Translationsregion für digitalisierte Gesundheitsversorgung“ vom Bund geförderten Projekts namens „Augmented Living Spaces“ (ALiS). Dessen Ziel ist es, eine Art „Smart Home“, also ein intelligentes Zuhause zu entwickeln, in dem virtuelle Hinweise sowohl Gefahrensituationen vermeiden helfen als auch die Aktivität älterer Menschen fördern. Sie sollen so ihren Alltag besser bewältigen und länger selbstständig in ihrer Wohnung bleiben können. Umgesetzt wird das Projekt von einem Team der Professur für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Betriebliches Informationsmanagement gemeinsam mit der Multimedia-Designagentur „DENKUNDMACH“ und weiteren Partnern, darunter das Dorothea-Erxleben-Lernzentrum der Universitätsmedizin.
Viele Einsatzmöglichkeiten
„Der Einsatz von Augmented-Reality-Technologien hat für die Stärkung der Selbstständigkeit älterer und kognitiv eingeschränkter Menschen ein hohes Potential“, sagt Prof. Dr. Stefan Sackmann. Nur: Augmented Reality (AR) – die computergestützte Erweiterung der Realität – ist in der Regel damit verbunden, dass die Anwenderinnen und Anwender selbst eine AR-Brille beziehungsweise ein Headset tragen. Das stellt im Alter und im Alltag eine enorme Hürde dar. ALiS funktioniert deshalb ohne zusätzliche tragbare Geräte, relevante Informationen werden kontextabhängig direkt in das Umfeld der Nutzerinnen und Nutzer projiziert: Im Raum angebrachte Sensoren erfassen den jeweiligen Standort der Bewohnerinnen und Bewohner und lösen bei Annäherung an vorher festgelegte Punkte besagte virtuelle Hinweise aus. Solche Ankerpunkte können neben dem mit Hitzesensoren ausgestatteten Herd oder der Zimmerpflanze zum Beispiel der Arzneischrank im Bad sein – mit dem Hinweis, welche Tabletten aus welchem Fach genau jetzt genommen werden müssen. Oder die Wohnungstür mit der optischen Erinnerung, vor dem Verlassen des Hauses Schlüssel, Tasche oder Einkaufszettel einzustecken.
Sowohl in der Literatur als auch in der Praxis sei man bisher nur auf vereinzelte Lösungen gestoßen, die beispielsweise einen Kalender projizieren, sagt der MLU-Doktorand Martin Böhmer. „Davon unterscheiden wir uns maßgeblich, weil wir im Prinzip in der Wohnung alles abdecken können“, so der 26-Jährige. Wo genau die Hilfen im Alltag nötig und auch erwünscht sind, haben die Forschenden um ihn und DENKUNDMACH-Geschäftsführer Victor-Alexander Mahn in Diskussionsrunden ermittelt, in die unter anderem Seniorenverbände und Pflegekräfte involviert waren. „Wir haben auch in einer Demenz-Wohngemeinschaft einen kompletten Tagesablauf miterlebt“, sagt Böhmer. Das brachte nicht zuletzt Hinweise darauf, wo die Grenzen des neuen Systems liegen: Schwer an Demenz erkrankte Menschen könnten sich auch von ihm überfordert fühlen.
Passgenaue Lösungen
Die Bedürfnisse und Erwartungen der Zielgruppe sind für das Projekt von besonderer Bedeutung. „Seniorinnen und Senioren fühlen sich von Technik oft bevormundet“, sagt Böhmer. Darauf wird in den virtuellen Hinweisen nicht nur bei der Formulierung Rücksicht genommen – anders als in der Technik oft üblich wird zum Beispiel nicht geduzt. Und: „Es soll auch nicht nur ein ‚Achtung, Sie machen etwas falsch!‘ sein“, sagt Mahn. Auf Anweisungen wird verzichtet, vor allem aber wird mit den Einblendungen immer auch ein zusätzlicher Service verbunden. Über dem Herd erscheint also nicht nur die Information, welche Platte noch heiß ist. Es werden auch Kochrezepte eingeblendet, per Sprachbefehl können die Nutzerinnen und Nutzer dann wie in einem Buch umblättern. An der Wohnungstür stehen über den Merkhilfen für Schlüssel und Co. zum Beispiel Veranstaltungstipps wie der Termin für das heutige Senioren-Yoga.
Die Forschenden arbeiten aber nicht nur an Inhalt und Aussehen der Hinweise, sondern natürlich auch an der technischen Umsetzung. „Da passiert gerade ganz viel parallel“, sagt Mahn. So greift ALiS inzwischen bereits auf typische Smart-Home-Schnittstellen zurück. Zum Beispiel wird das normale Zimmerlicht gedimmt, sobald durch Annäherung des Menschen an einen Ankerpunkt der Beamer ausgelöst wird: Beide Lichtquellen sollen nicht gegeneinander arbeiten. Projektor, Bewegungssensoren und ein handelsüblicher Minicomputer, über den das System gesteuert wird, könnten nach Vorstellung der Projektbeteiligten in Deckenlampen integriert werden. So werden sie nicht zur Stolperfalle oder zum Störfaktor, sondern zum Designelement. Für das Tracking der Bewohnerinnen und Bewohner innerhalb der Räume wurde von den Wirtschaftsinformatikern um Projektmitarbeiter Böhmer zudem eine Künstliche Intelligenz entwickelt und trainiert. „Diese KI kann sehr schnell generalisieren“, so Böhmer – das System muss also nicht in jedem später genutzten Raum neu trainiert werden.
Einige Aufmerksamkeit hat die Arbeit der Wissenschaftler bereits erregt: Beim diesjährigen IQ Innovationspreis Mitteldeutschland wurde sie aus über 100 Bewerbungen für die Top 5 des Clusters Informationstechnologie für den IQ-Preis Halle ausgewählt. Das Projekt läuft über zwei Jahre noch bis März 2023, gefördert wird es mit einer Summe von 370.000 Euro. Bis zum Abschluss soll ein Prototyp für eine komplette Wohnung und verschiedenste Szenarien funktionieren. „Ein fertiger Prototyp und ein Produkt im Regal sind aber noch zwei unterschiedliche Sachen“, so Mahn. „Da ist noch eine Menge zu tun.“
Martin Böhmer
Institut für Wirtschaftsinformatik
Tel.: +49 3545 55-23474
E-Mail: martin.boehmer@wiwi.uni-halle.de
Victor-Alexander Mahn
DENKUNDMACH Parschat, Mahn GbR
E-Mail: vam@denkundmach.de