Johann Georg Sulzer – der unbekannte Aufklärer
Manchmal reicht eine schlechte Rezension aus, um das Ansehen eines Autors schwer zu beschädigen. Im Fall von Johann Georg Sulzer war es die Meinung von Johann Wolfgang von Goethe. „Goethe war erbost über Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste“, sagt Hans Adler. Sulzer hatte 1771 eine Art Lexikon über Begriffe der Ästhetik veröffentlicht: In rund 900 Artikeln widmete er sich zum Beispiel Aspekten der Literatur, der Musik oder auch der Architektur. Für den jungen Goethe war das ein Affront: „Sulzer wurde zum Inbegriff des Philosophen, der sich anmaße, über Kunst und Literatur zu theoretisieren, ohne etwas davon zu verstehen“, so der Germanist weiter. Dabei gelte die „Allgemeine Theorie“ heute als eine der wichtigsten lexikalischen Publikationen zur Ästhetik und Kunsttheorie der Aufklärung. Und trotzdem ist ihr Urheber heute weitgehend unbekannt.
Von der Schweiz nach Deutschland
Hans Adler ist ein weltweit führender Experte für Literatur im 18. Jahrhundert und beschäftigt sich seit langem mit der Geschichte der Aufklärung. Der renommierte Germanist wurde 2016 für sein bisheriges wissenschaftliches Schaffen mit dem Alexander von Humboldt-Forschungspreis ausgezeichnet. Damit verbunden ist ein Preisgeld in Höhe von 60.000 Euro, das Adler für mehrere Forschungsaufenthalte an der Uni Halle und dem Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) einsetzt. Die Idee, gemeinsam mit Prof. Dr. Elisabeth Décultot an einer Gesamtedition der Schriften Sulzers zu arbeiten, verfolgen die beiden Literaturwissenschaftler schon seit einigen Jahren. „Durch das Preisgeld der Alexander von Humboldt-Stiftung können wir die gute Zusammenarbeit zwischen Halle und Madison nun aber noch weiter intensivieren“, so Adler, der besonders für seine Forschungsarbeiten zu Johann Gottfried Herder bekannt ist. Dem widerfuhr übrigens ein ähnliches Schicksal wie Sulzer: „Immanuel Kant warf Herder in einer Rezension vor, er könne nicht denken.“
Aber zurück zu Sulzer: Er wurde 1720 in Winterthur in der Schweiz geboren. In Zürich widmete er sich dem Studium der Theologie, Philosophie – auch der Mathematik, der Poesie und der Künste. Nach mehreren Zwischenstationen in Deutschland und der Schweiz wurde er 1747 als Professor der Mathematik nach Berlin berufen und 1750 in die dortige königliche Akademie der Wissenschaften aufgenommen. 1775, vier Jahre vor seinem Tod, übernahm Sulzer auf Bitte von König Friedrich II. das Direktorenamt der philosophischen Klasse der Akademie. „Daran sieht man, wie gut Sulzer vernetzt war“, kommentiert Elisabeth Décultot.
Erweiterung des Aufklärungsbegriffs
Trotz Goethes Kritik wurden Sulzers Schriften in der zweiten Hälfte des 18. Jh. in Deutschland durchaus rezipiert, von Herder, dem jungen Schiller und anderen. Auch über die Grenzen der deutschsprachigen Länder hinaus – insbesondere in Frankreich und in Italien – fanden sie Widerhall. Das könnte daran gelegen haben, dass Sulzer versuchte, den Begriff der Aufklärung um die Dimension des Sinnlichen zu erweitern. „Bis heute ist der Begriff der Aufklärung von einem zu engen Vernunftbegriff geprägt“, erläutert Adler. „Für Sulzer war aber klar: Vernunft und Verstand sind nicht alles.“ Er plädierte für eine ganzheitliche Bildung, die neben dem rationalen Denken auch eine ästhetische Bildung und eine Bildung der Sinne beinhalten müsse. Diese umfassende Erziehung sei die Grundlage für einen aufgeklärten Menschen. Deshalb beschäftigte sich der Philosoph Sulzer mit vielen unterschiedlichen Themenbereichen, zum Beispiel auch mit der Psychologie, der Religion und der Pädagogik.
Sulzers Werk geht aber noch darüber hinaus: Hinzu kommen Reiseberichte, Lebenszeugnisse und ein sehr umfangreicher Briefwechsel, den Sulzer mit zahlreichen Akademikern und Schriftstellern über 30 Jahre lang pflegte. All diese Schriften wollen Adler und Décultot zusammentragen, editieren und kommentieren – und so für die Forschung verfügbar machen. Der erste Band der Ausgabe mit Sulzers Überblick über den damaligen Stand der Wissenschaften – herausgegeben von Hans Adler – erschien 2014.
„Wir sind die Referenz“
Aktuell arbeiten die beiden Wissenschaftler gemeinsam mit wissenschaftlichen Mitarbeitern, Studierenden und einem internationalen Herausgeber-Team daran, Sulzers Werke zu edieren und die Handschriften und Erstdrucke zu transkribieren. Eine mühselige Arbeit, bei der es darauf ankommt, immer hoch konzentriert und detailgetreu zu arbeiten: „Dabei muss wirklich jedes Komma sitzen. Schließlich wird unsere Arbeit die Referenz für alle späteren Arbeiten zu Sulzer sein“, gibt Décultot zu bedenken. Mit der Editionsarbeit sei es aber noch nicht getan. Zu allen zehn Bändern fertigen die Forscher umfangreiche Kommentare an, um den zeithistorischen und theoretischen Kontext für die heutigen und späteren Generationen nachvollziehbar zu machen.
Die gesammelten Schriften erscheinen im Schwabe Verlag in der Schweiz. „Ein wirklich hervorragender Verlag für unser Vorhaben“, wie Hans Adler findet. Auch lobt er allgemein die Arbeitsbedingungen am IZEA: Zahlreiche Experten für Aufklärungsforschung arbeiten in Halle. Außerdem biete die Bibliothek des Zentrums einen sehr umfangreichen Bestand an historischen Quellen.
Am Ende des Großprojekts von Adler und Décultot sollen 15 Bücher in zehn Bänden stehen, die die Schriften des Schweizers für die Nachwelt verfügbar machen und auch dazu dienen, die Debatte um die Aufklärung neu zu beleben. Adler und Décultot betonen, dass es ihnen nicht darum geht, Sulzer zu rehabilitieren oder als verlorenen Helden der Aufklärung darzustellen. Dass Sulzers Ideen dennoch hilfreich sein können, davon ist Adler überzeugt: „Unsere moderne Gegenwart fußt auf den Grundlagen der Aufklärung. Wenn wir weiter einen zu engen Aufklärungs-Begriff benutzen, führt das unausweichlich zu Problemen.“ Deshalb brauche man ein umfassendes Verständnis davon, was einen aufgeklärten, mündigen Menschen ausmacht.