Lesewelten - Lebenswelten

29.01.2012 von Margarete Wein in Forschung, Rezension, Wissenschaft
Sachsen-Anhalt ist eines der reichsten Länder – nicht nur Deutschlands, sondern wohl auch Europas und vielleicht sogar der Welt. Wer das vorher nicht wusste, dem wird es spätestens bei der Lektüre der jüngst erschienenen „Lesewelten“ klar. Dieser dritte einer vom Kultusministerium Sachsen-Anhalt geförderten Publikationsreihe hat sich schwer getan, das Licht der Leserwelt zu erblicken. Als am 31. Mai 2011 in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt (ULB) die Premiere stattfand, lag das einst geplante Erscheinungsdatum schon länger als ein Jahr zurück – und inzwischen ist fast ein weiteres vergangen, bis es nun der Leserschaft der scientia halensis vorgestellt und empfohlen wird.
Von 80 Eigentümern erhielt die ULB Rückgabeaufforderungen.
Von 80 Eigentümern erhielt die ULB Rückgabeaufforderungen. (Foto: Maike Glöckner)

Eine „Schatzkammer“ wird inspiziert

Über dem ersten Abschnitt des einleitenden Beitrags von Lars-Thade Ulrichs steht ein Motto aus Arno Schmidts früher Erzählung „Gadir oder Erkenne dich selbst“, nämlich: „Es gibt ohnehin schon mehr Bücher als Augen, sie zu lesen.“ Das klingt pessimistisch, ist es aber nicht. Denn gerade weil es so viele Bücher gibt, haben wir Grund zu hoffen! Erst die Fülle denkbarer Lektüre eröffnet dem Suchenden „den Zugang zur Welt und zur Geschichte“, lässt Erkenntnisgewinn möglich werden. Deshalb apostrophieren die Herausgeberinnen den Band als „Kaleidoskop zur Buch-, Bibliotheks- und Buchsammlungsgeschichte“, nennen ihn „Schatzkammer der Bücher“ und betonen seinen Stellenwert im musealen und touristischen Netzwerk, das seit 2003 den Blick der interessierten Öffentlichkeit auf „Sachsen-Anhalt und das 18. Jahrhundert“ lenkt.

Vor tausend Jahren fing es an

Über 30 Experten haben zu der kiloschweren Publikation "Lesewelten" beigetragen.
Über 30 Experten haben zu der kiloschweren Publikation "Lesewelten" beigetragen. (Foto: MDV)

Die Anfänge der ersten Bibliotheken auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt reichen mehr als tausend Jahre zurück: Sie liegen in Halberstadt, Havelberg, Magdeburg, Merseburg und Zeitz; wenig später (1030) folgte Naumburg. Zugleich waren Zerstörungen durch Kriege oder Brandkatastrophen, Plünderungen und regelrechte Bücherverbrennungen seit über 800 Jahren an der Tagesordnung. Auch Luther ging in diesem Kontext in die Geschichte ein: 1521 vollzog er eine der ersten Bücherverbrennungen der Frühen Neuzeit – und 1524 forderte er in einem Sendschreiben „An die Radherren aller stedte deutsches lands“, dass allerorten „gutte librareyen odder bücher heuser“ eingerichtet werden sollen. Die schönste Frucht aus diesem Samen ist die 1552 gegründete, hallesche Marienbibliothek, die älteste bis heute bestehende protestantische Bibliothek Deutschlands.

Dennoch blieb über die Bibel hinaus gehendes Lesen noch lange einer Elite vorbehalten. Erst im Zeitalter der Aufklärung – zu deren Charakteristika ja umfassende und allen zugängliche Bildung zählte – änderte sich das. Viele Bibliotheken gaben sich Benutzerordnungen; um ihre Bestände leichter zugänglich zu machen, wurden sie systematisiert und katalogisiert. Im Wortsinn öffentlich waren von da an vor allem die Stadt- und Schulbibliotheken, so die Stadtbibliotheken in Magdeburg und Zerbst, die Bibliotheken der Klosterschule Pforta, des Waisenhauses in den Franckeschen Stiftungen in Halle, des Philanthropinums in Dessau und viele andere. Was das akademische Leben angeht, spielten Universitätsbibliotheken seither eine besondere Rolle. Für Studenten und Professoren avancierten sie zu Zentren wissenschaftlicher Tätigkeit, wurden zum „Ort des gelehrten Austauschs und damit zur Stätte sowohl der Forschung als auch der Lehre“.

Zudem ist die Bibliotheksgeschichte des 18. Jahrhunderts geprägt von vielen musealen und privaten Büchersammlungen – wie die des Spengler-Museums in Sangerhausen, des Naumann-Museums in Köthen, des Händel-Hauses in Halle oder jene auf Schlössern wie Erxleben, Ostrau und Oberwiederstedt. Die unüberschaubare Menge der Buchbestände zog –unmittelbare Folge der Medienrevolution jener Zeit – eine adäquate Vielfalt von Lesewelten nach sich. Die Tradition der ständeübergreifenden „collegia pietatis“ des 17. Jahrhunderts brachte in der Aufklärungsära Lesezirkel und Lesegesellschaften, Bildungsvereine und literarische Salons in großer Zahl hervor: „das Lesen [wurde] zu einer allgemein verbreiteten Tätigkeit, die nahezu alle Stände und Bevölkerungsschichten erfasste – sofern sie nur überhaupt des Lesens fähig waren.“ Dieses „Zeitalter des Buches“ war zugleich die Wiege des wahren „Bildungsbürgertums“, für das weniger Besitz als Bildung im Mittelpunkt des Interesses stand. Und weil nicht jeder potenzielle Leser sich den Kauf von Büchern leisten konnte, entstanden damals die ersten Leihbibliotheken, eine durchaus sinnvolle Einrichtung, die aber nicht selten als „bloße Finanzspekulation“ in Misskredit geriet.

Bezogen auf die politischen Zeichen der Zeit, kam der Lektüre an sich, zumindest teilweise, eine Kompensationsfunktion zu. Deshalb „kann man die Leserevolution als Ersatz für die in Deutschland fehlende politische Revolution bezeichnen“. Unterstützt wurde dieser Prozess durch das ungeheure Ansteigen der Produktion von Zeitschriften und anderen Periodika, gerade im mitteldeutschen Raum und damit auch im heutigen Sachsen-Anhalt. Allerdings meldeten sich damals schon kritische Stimmen zu Wort, die vor den vermeintlichen oder tatsächlichen Gefahren extensiv betriebener Lektüre warnten – ähnlich wie heutzutage Überängstliche die vermutete Computersucht der Jugend verteufeln.

Exemplarisch: die Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt

Der Lesesaal der ULB
Der Lesesaal der ULB (Foto: Maike Glöckner)

Eins der umfänglichsten Kapitel dieses Katalogs sachsen-anhaltischer „Bücherwelten“ ist der ULB gewidmet: Marita von Cieminski, Heiner Schnelling, Dorothea Sommer und Heidrun Wöllenweber verfassten das Porträt der größten Bibliothek im Bundesland – zugleich einer der größten deutschen überhaupt. Ausgehend von 1131 Büchern (Dubletten, die sie bei der Gründung 1696 vom preußischen Hof bekam) wuchs allein ihr historischer Buchbestand – alle bis 1900 erschienene Bände – im Lauf der Zeit auf nahezu 450 000 Exemplare an. Zunächst geschah dies vorwiegend durch Nachlasse, Schenkungen und Pflichtexemplare hallescher Verleger, Letzteres eine Tradition, die sich seit 1948 auf ganz Sachsen-Anhalt erstreckt und noch immer besteht. Ein systematischer Bestandsaufbau setzte allerdings erst am Ende des 18. Jahrhunderts ein.

Ein bedeutender Mäzen mitteldeutscher Wissenschaft und großer Verehrer Christian Wolffs war Johann August von Ponickau (1740–1811). Er ist in Gestalt der Bibliotheca Ponickaviana bis heute in der ULB präsent. Bereits 1791 stiftete er der Leucorea seine gesamte Bibliothek. Nach den napoleonischen Kriegen und infolge der Vereinigung der Wittenberger mit der halleschen Universität 1817 gelangte diese bis 1843 komplett nach Halle, aber erst 1880 fand sie in einem gesonderten Magazin ein endgültiges Domizil. Ihrem Inhalt nach – Urkunden, Landkarten, Stadtchroniken u. v. m. – gilt die inzwischen vollständig digitalisierte Sammlung „als kulturelles Gedächtnis des mitteldeutschen Raumes“.

Ein weiteres Unikum innerhalb der ULB stellt die legendäre „Ungarische Bibliothek“ dar, 1725 von dem Exulanten Georgius Michaelis Cassai (1640–1725) den ungarischen Studenten in Wittenberg geschenkt. Schließlich spiegelt sich die reiche Musikgeschichte Mitteldeutschlands in den Beständen der ULB wieder. Notendrucke, musiktheoretische Schriften sowie musikalische Fachzeitschriften und Lexika des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts geben vielfältige Einblicke in die klangvolle Historie der Region und stehen nach wie vor für Forschung und Lehre bereit.

Gemäß ihrem Namen ist die Zweigbibliothek des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der europäischen Aufklärung (IZEA) besonders eng mit jener Zeit verzahnt. Nach dem Vorbild der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel eingerichtet und teilweise als Präsenzbibliothek in der Aula eines Schulgebäudes in den Franckeschen Stiftungen aufgestellt, enthält sie eine Fülle historischer Quellen, unter anderem Erstausgaben der Werke von Christian Thomasius und Christian Wolff, den Gründungsvätern der halleschen Universität.

Ein Buch (über Bücher) fürs Leben!

Als „Handbuch“ kann man den vorliegenden Band bei gefühlten drei Kilo kaum bezeichnen – zur Hand nehmen sollte man ihn dennoch und so oft wie möglich. Etwa zur Vorbereitung literarisch motivierter Exkursionen im Land, zur Erweiterung des eigenen Wissens oder einfach nur, weil er wunderschön ist mit klugen Texten und wahrhaft unzähligen farbigen Bildern und Faksimiles. Das lokalpatriotische Interesse von Hallensern wird neben dem Artikel zur ULB mit Beiträgen über die hallesche Marienbibliothek, zur Bibliothek des Händel-Hauses, über das Archiv der Leopoldina und zum Kupferstichkabinett des Museum universitatis der Alma mater halensis bedient. Darüber hinaus werden rund zwanzig andere historische sachsen-anhaltische Bücher-Orte vorgestellt, zum Beispiel Ballenstedt, Halberstadt, Magdeburg, Quedlinburg, Stendal, Weißenfels, Wernigerode, Wörlitz. Über dreißig Experten verschiedener Couleur haben sich mit Sachverstand und liebevoller Akribie ihrer jeweiligen Präsentationsobjekte angenommen. Literaturhinweise und Anmerkungen nach jedem Kapitel, eine Zusammenstellung der „Bücherschreiber, -sammler und -verleger sowie Bibliothekare und Bibliotheksförderer des 18. Jahrhunderts“ mit 183 Namen derjenigen, die an den in Rede stehenden Örtlichkeiten wirkten, und endlich die ausführlichen Orts- und Personenregister am Ende des Buches stellen einen unerschöpflichen Quell von Informationen und Anregungen zum Weiterlesen dar.

► Dziekan, Katrin/Pott, Ute (Hg.): Lesewelten – Historische Bibliotheken. Büchersammlungen des 18. Jahrhunderts in Museen und Bibliotheken Sachsen-Anhalts, Mitteldeutscher Verlag Halle 2011, 428 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, 24,00 Euro, ISBN 978-3-89812-538-3

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