Marx unplugged
Nur ein Buch von Karl Marx und Friedrich Engels findet sich im Büro von Prof. Dr. Harald Bluhm. Ein Widerspruch? Schließlich begleitet er seit 2008 die Marx-Engels-Gesamtausgabe, ein umfangreiches Editionsprojekt, an dessen Ende mehr als 110 Bände stehen werden. „Ein Großteil der MEGA ist digital im Netz verfügbar, andere Bände stehen in meinem Berliner Büro“, erklärt der Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Uni Halle. Als Projektleiter der MEGA und Forscher, der selbst über den Klassenbegriff von Marx promoviert wurde, ist er in diesen Tagen viel unterwegs. „Marx beeinflusst auch heute noch das Denken vieler Menschen“, sagt Bluhm. Besonders seit den Finanzkrisen der 2000er Jahre erlebten seine Theorien und Werke wieder einen Hype.
„Wer Marx ernsthaft verstehen will, muss zur MEGA greifen. Sie ist das erste, weltweit einzige internationale und ideologiefreie Editionsprojekt zu Marx und Engels. Sie ist der Goldstandard der Marxforschung“, ist Bluhm überzeugt. Die Kernprinzipien der Edition sind: absolute Vollständigkeit, Originalsprachlichkeit, eine strikt chronologische Textanordnung, eigene Textkonstitution mit originalgetreuer Wiedergabe unter Beibehaltung der Orthographie und Interpunktion sowie die vollständige Darstellung der Textgenese bei Manuskript- und Druckfassungen: Hinzu kommen umfassende Erläuterungen der Texterschließung.
Das Großprojekt, das seine Anfänge in den 1960er Jahren hat, ist in vier große Abteilungen untergliedert: „In der ersten Abteilung sind alle Werke, Schriften, Artikel und Reden von Marx und Engels versammelt, inklusive der überlieferten Vorstufen, späterer Revisionen und Übersetzungen“, erläutert Bluhm. Ausgenommen sind hier das Werk „Das Kapital“ und dessen umfangreiche Manuskripte sowie verschiedener Auflagen, denen die zweite Abteilung vorbehalten ist. Der gesamte überlieferte Briefwechsel von und an Marx sowie Engels ist in der dritten Abteilung zusammengefasst. Die kompletten Exzerpthefte und Notizbücher werden in der vierten und letzten Abteilung der MEGA aufgearbeitet. Wissenschaftlerteams in Deutschland, Russland, Frankreich, den Niederlanden, den USA und Japan arbeiten gemeinsam an der Erschließung und der Fertigstellung der MEGA, die auf 2032 datiert ist. Die Arbeit ist mitunter sehr mühsam, wie Harald Bluhm weiß: „Marx hat eine nur schwer entzifferbare Handschrift, auf einigen Manuskriptseiten befinden sich zum Beispiel auch Weinflecken.“ Doch die Mühe lohnt sich: Über 62 Bände sind bislang erschienen, die von Forscherinnen und Forschern aus der ganzen Welt genutzt werden. Zudem ist die MEGA Basis fast aller internationalen Marx-Ausgaben.
Wie hat Marx gearbeitet?
Speziell die letzte Abteilung mit allen Exzerpten und Notizbüchern von Marx sei für die Forschung erhellend, so Bluhm: „Anhand seiner Exzerpte kann man Marx bei der Arbeit über die Schulter schauen. Seit seiner Studienzeit hat er Texte exzerpiert und kommentiert. Bei seinen Feinden suchte er etwa nach entlarvenden Zitaten. Auch über die Verwendung von Zitaten führte er akribisch Buch und hakte etwa verwendete Zitate ab, um sich nicht zu wiederholen.“ In den Exzerptheften wird noch ein weiteres Detail deutlich: Karl Marx hat nicht nur ungeheuerlich große Textmengen verarbeitet, er hat sich zu sehr unterschiedlichen Themen belesen: von der Ökonomie über Philosophie, Mathematik, Geologie, Elektrotechnik und Chemie. „Marx selbst will ein Universalgelehrter sein“, konstatiert Bluhm und ergänzt: „Marx hat seit Mitte der 1870er Jahre nichts mehr veröffentlicht. Wenn wir Rückschlüsse auf sein Denken ziehen wollen, müssen wir uns seine Exzerpte und auch seine Briefe genau anschauen.“ Apropos Briefe: Marx pflegte als Bürger des 19. Jahrhunderts eine intensive und international stark vernetzte Korrespondenz. Viele Briefe befassen sich mit der Organisation der internationalen Arbeiterbewegung oder mit politischen, persönlichen, literarischen sowie sozialen Fragen. „Die Briefe zeigen einen vielseitig interessierten Verfasser, der sich im Umgang mit seinem Kompagnon Engels sehr offen äußert, ansonsten aber gerne taktiert“, sagt Bluhm.
Durch ihre akribische und systematische Arbeitsweise können die MEGA-Mitarbeiter mit einigen Fiktionen um Marx aufräumen: „Es gibt nicht den einen Autor Marx, der von Anfang an ein stringentes Programm verfolgt hat. Als Sozialwissenschaftler studierte er Berge von Daten, Materialien und Theorien, die ihn immer wieder zu Veränderungen seiner Positionen gezwungen haben.“ Auch „Das Kapital“, das zeige sich anhand der vielen Manuskripte und Vorstufen, sei kein einheitliches Werk: „Marx hat seinen Plan fünf Mal geändert: Zunächst hatte er alles auf England ausgerichtet, später auf die USA. Sogar die tendenziell fallende Profitrate, zunächst ein Schlüsselgesetz in seiner Theorie, relativiert er später.“ Von den drei Bänden, aus denen das Werk heute besteht, hat Marx lediglich den ersten Band fertiggestellt. Die anderen beiden Bände wurden von Engels erst nach dem Tod von Karl Marx finalisiert und veröffentlicht. „Die beiden Bände basieren auf Manuskripten, die Marx vor dem ersten Band verfasste.“ In der MEGA macht die Abteilung zu „Das Kapital“ 15 Bände mit mehr als 20.000 Seiten aus, die jeden Zwischenschritt und jede Veränderung dokumentieren.
Es gibt nicht den einen Marx
Diese unzähligen Manuskripte und Revisionen lassen Bluhm zu dem Schluss kommen, dass Marx an der selbstgestellten Aufgabe gescheitert ist, eine ganzheitliche und kritische Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise zu erstellen – das eigentliche Ziel von „Das Kapital“. Sie zeigen aber auch noch etwas Weiteres: „Marx war durch und durch ein empirisch arbeitender Wissenschaftler, der sich selbst permanent überprüfte und sich angesichts der vielen Entwicklungen der bürgerlichen Welt auch revidierte.“ Mit Marx, so Bluhm, entstehe so auch die erste moderne Wissenssoziologie, die fordert, dass die Erkenntnisinteressen von den Forschern reflektiert und offengelegt werden müssen.
Im „Marx-Jahr“, das seinen 200. Geburtstag markiert, gibt es eine regelrechte Flut von Publikationen und Aktion zu Ehren des großen Intellektuellen. Einige davon basieren auf der Arbeit und den Erkenntnissen der MEGA. Andere dagegen lassen sich nur als kurios beschreiben: Die Stadt Trier etwa, in der Marx geboren ist, verkauft für drei Euro „0-Euro-Scheine“, auf denen ein Porträt von Marx zu sehen ist. Kapitalismus in Reinform. „Marx, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts den Kommunismus erwartete, hatte von den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und von unserem heutigen kapitalistischen System keine Ahnung“, so Bluhm. Trotzdem gebe es viele Grundeinsichten bei Marx, etwa zu Krisen, Konflikten und dem Kapitalismus, die bis heute ihre Gültigkeit behalten hätten. Und um diese genau zu verstehen, lohnt sich der Blick ins Original.
Die Geschichte der MEGA
Bereits 30 Jahre nachdem Marx 1883 in London gestorben war, gab es in Russland erste Versuche, sein Werk in einer Gesamtausgabe herauszugeben. Die ersten Bände dieses ersten MEGA-Vorläufers erschienen in den 1920er Jahren, die Arbeit wird aber durch das stalinistische Regime in den 1930er Jahren zunächst politisch gesteuert und später für viele Jahre komplett eingestellt. Erst in den 1960er Jahren nahm das Projekt in der DDR erneut Fahrt auf, gegen den Widerstand hoher Parteivertreter, die große Bedenken gegenüber einer historisch-kritischen Ausgabe hatten. Genau dieser Charakter sicherte dem Projekt aber von Anfang an die Unterstützung des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte (ISSH) in Amsterdam. Die Edition blieb dennoch eine Parteiangelegenheit. Die Bandeinleitung und Kommentare waren ideologisch eingefärbt; in Einzelfällen betraf dies auch die Textdarbietung.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands stellte sich die Frage, wie man mit den bis 1990 erschienenen Bänden und mit dem Restprogramm der MEGA weiter verfahren sollte. Nach einer intensiven Begutachtung entschloss man sich dafür, das Projekt weiterzuführen: 1990 wurde in Amsterdam unter dem Dach des ISSH die Internationale Marx-Engels-Stiftung gegründet. 1992 folgte ein Kooperationsvertrag zwischen der Stiftung und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, um das Projekt künftig als Akademievorhaben weiterzuführen.