Mündigkeit statt Murmeln
Herr Prof. Klemme, Immanuel Kant gilt als einer der einflussreichsten abendländischen Philosophen, seine „Kritik der reinen Vernunft“ markiert den Beginn der modernen Philosophie. Kann er uns heute, 217 Jahre nach seinem Tod, noch neue Erkenntnisse liefern?
Heiner Klemme: Ich denke, das kann er durchaus. Kant wird seit langem zu Recht als einer der wichtigsten Philosophen von Neuzeit und Moderne gewürdigt, gleichwohl gibt es immer noch Neues zu entdecken. In unserem Projekt wollen wir den „ganzen Kant“ erforschen. Meine Mitarbeiter Dr. Gabriel Rivero und Daniel Stader und ich arbeiten an verschiedenen Teilprojekten, die um den Begriff der Mündigkeit beziehungsweise Unmündigkeit kreisen. Von besonderem Interesse sind für uns der historische Kontext von Kants Denken sowie der eigenständige philosophische Gehalt seiner Auffassungen. Darüber hinaus setzen wir uns mit der kritischen Rezeption seiner Philosophie der Aufklärung auseinander. Wir möchten verstehen, ob die Kritik an Kant, so wie sie beispielsweise von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, aber auch von Martin Heidegger und Michel Foucault im 20. Jahrhundert geübt worden ist, ihrerseits der kritischen Überprüfung standhält. Im Übrigen gibt es kaum einen passenderen Ort für eine solche Studie als Halle.
Inwiefern?
Kant besuchte das Königsberger Collegium Fridericianum, eine höhere Schule, die im Geiste des Pietismus nach dem Vorbild der Franckeschen Schulanstalten eingerichtet worden war. Zahlreiche Lehrer und auch Professoren an der Universität Königsberg wurden in Halle ausgebildet. Später hielt Kant Vorlesungen nach Lehrbüchern hallescher Professoren und setzte sich mit ihren Werken inhaltlich auseinander, darunter Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier, Johann August Eberhard, Wenceslaus Johann Gustav Karsten und natürlich Christian Wolff.
Welche Rolle spielt Wolff für Kants Philosophie?
Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Kant hat Wolffs Philosophie schon während seiner Schulzeit kennengelernt. Er hat ihn als gründlichen Denker geschätzt, sich ansonsten aber immer von Wolffs Verständnis von Vernunft, Metaphysik und Ethik distanziert. Wolffs Auffassung nach sollten wir unseren Verstand über alles schätzen.
Das klingt nicht unvernünftig.
Kant würde Wolff in diesem Punkt auch nicht grundsätzlich widersprechen. Aber sein Vernunftbegriff ist wesentlich komplexer und ausdifferenzierter als derjenige Wolffs. Es gibt Fragen, sagt Kant, die der Mensch mit dem Verstand allein nicht beantworten kann und die dennoch existentiell sind. Zum Beispiel, was das Wesen des Menschen ausmacht. Rein rational betrachtet, würde es für unser Glück ja ausreichen, wenn wir im Stadium eines Kleinkindes verharrten und für den Rest unseres Lebens mit Murmeln spielten. Wolff unterscheidet aber nicht zwischen Vernunft und Verstand, zwischen Begriff und Anschauung, zwischen dem konstitutiven und dem regulativen Gebrauch der Vernunft. Nach Kant ist es ihm nicht gelungen, Freiheit und Verbindlichkeit zu verstehen. Vor allem fehlt bei Wolff der Gedanke der Kritik. Dass die Vernunft über sich selbst Gericht sitzen muss, um die Grenzen und Schranken ihres eigenen Gebrauchs zu erkennen, wäre für den Vollblutrationalisten Wolff ein abwegiger Gedanke gewesen. Wird dieser innere Streit unterbunden, der für Kant notwendig ist, bleiben wir unmündig.
Also keine Aufklärung ohne die Mündigkeit des Menschen?
Richtig. Kant setzt dem Wahrheitsbegriff des frühneuzeitlichen Rationalismus das Konzept einer Vernunft entgegen, die nach erfolgter Selbstkritik zwar einerseits Quelle von Gewissheit und Wahrheit ist, andererseits auch eine prekäre Existenz führt. Denn der Mensch ist mehr als Vernunft – und die Welt, in der er lebt, seinen Zwecken gegenüber oft rücksichtslos. Verfügen wir nicht über „gesunde Vernunft“, vermögen wir uns im Denken und Handeln nicht zu orientieren, werden wir in der Welt scheitern. Wir verlieren uns selbst, unseren Verstand, unsere Freiheit, unsere Rechte, unsere Hoffnung, unseren Sinn für das Schöne und Erhabene.
Ist das eine Erkenntnis Ihrer bisherigen Projektarbeit?
Kants Begriff der Mündigkeit als unverzichtbares Element seiner Aufklärungstheorie ist bekannt. Was sich im Verlaufe unserer Arbeit jedoch als neu herausstellte, ist die Tatsache, dass dieses Mündigkeitskonzept im Zentrum seiner Philosophie als Ganzes steht. Dabei reduziert Kant das menschliche Vermögen nicht allein darauf, was uns an Wissen zugänglich ist und was wir davon zu verstehen in der Lage sind. Er zielt vielmehr auf eine Weise der Selbsterkenntnis, die Voraussetzung für Freiheit und Selbsttätigkeit ist und die durch eigenes Denken und Tun in der Welt vollzogen und als Vermögen erhalten werden müsse. Die sukzessive Überwindung der Unmündigkeit ist also ohne das Ziel, dass sich die Menschen durch den Gebrauch ihres Vernunftvermögens als vernunftfähige Subjekte erhalten wollen, gar nicht zu denken.
Selbsterkenntnis, Selbsttätigkeit – das „Selbst“ scheint bei Kant eine große Rolle zu spielen.
Auch das ist eine wesentliche Erkenntnis unseres Projekts: Das „eigentliche Selbst“ des Menschen zielt auf Mündigkeit und Erhaltung seiner Vernunft. Kant spricht auch von Selbstständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstherrschaft, Selbstbesitz, Selbstdenken, Selbstgefühl, Selbstgesetzgebung und Selbstsorge, von gesunder Vernunft und eigenem Willen. In der Selbsterhaltung von Vernunft und Freiheit sieht Kant die Antwort auf Autorität, Zwang und Zensur, aber auch auf Aberglaube und Schwärmerei, Verblendung und Vorurteile. Wer selbst denkt, so Kant, ahmt keine fremde Vernunft nach und unterwirft sich keiner Autorität blind. Vernünftige Menschen anerkennen nichts, was sie nicht selbst als vernünftig denken können.
Fordert Kant diese Selbstherrschaft, die Befreiung aus der Unmündigkeit, für alle Mitglieder der Gesellschaft?
Was uns aus heutiger Sicht sehr befremdlich erscheint, ist, dass Kant Unterschiede der Mündigkeit im Geschlecht begründet sieht: Gewisse Einsichten und bürgerliche Geschäfte, sagt er, seien „ganz außer der Sphäre der Frauenzimmer“. Das weibliche Geschlecht wolle beziehungsweise dürfe sich in diesen Dingen nicht der eigenen Vernunft bedienen, sondern müsse sich einer fremden Vernunft unterwerfen, der des Mannes natürlich. Selbstbewusste, kluge und mächtige Frauen – Kant war zwischen 1758 und 1762 Untertan von zwei russischen Zarinnen – seiner Zeit scheinen für ihn nur bemerkenswerte Ausnahmen von der Regel gewesen zu sein. Wahr ist allerdings auch, dass Kant an prominenter Stelle Kritik an Männern übt, die sich als „Vormünder“ des „ganzen schönen Geschlechts“ aufschwingen und Frauen in ihrer Unmündigkeit erhalten wollen.
Könnten Kants Thesen, seine Sicht auf die Welt und den Menschen – sein Frauenbild einmal ausgenommen – unser heutiges Zusammenleben noch bereichern?
Ich denke, da gibt es eine ganze Reihe von Positionen, die auch heute noch relevant sind.
Aufklärung ist für Kant eine Haltung, die auf Mündigkeit und Humanität zielt. Jenseits der Mündigkeit liegt das Reich der Fremdbestimmung, der Vormundschaft durch andere und der gesetzlosen Gewalt. Kant lehrt uns, dass wir uns ohne Streit, der auf Erkenntnis- und Freiheitsgewinn zielt, nicht als Vernunftwesen erhalten können. Sich selbst zu erhalten meint zugleich, durch eigenes Tun seine Mitteilungs- und Orientierungsfähigkeit in der Welt zu bewahren und zu bewirken. Ein Beispiel dafür ist der Austausch unterschiedlicher Meinungen, nicht nur, aber auch in der Wissenschaft. Kant hat dafür den Begriff der „Tischgesellschaft“ geprägt: eine Zusammenkunft Gelehrter, die „mit Erzählen beginnt und mit Lachen endet“, die – gern bei gutem Essen und dem einen oder anderen Glas Wein – den freien Austausch zwischen Menschen fördert und es erlaubt, neue Perspektive des Denkens auszuprobieren. Für Kant ist Aufklärung kein Zustand, sondern ein nicht abschließbarer Prozess. Wir würden ihm eine große Freude bereiten, diesen Prozess am Leben zu erhalten. Ob Aufklärung im Großen und Kleinen gelingt, liegt wesentlich an uns selbst.
Das Projekt „Kants Begriff der (Un-)Mündigkeit in historischer und systematischer Perspektive“ am Seminar für Philosophie der MLU startete im Jahre 2018 und läuft über insgesamt 54 Monate bis 2022. Es wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Zur Projektarbeit der drei Projektbeteiligten zählen neben Publikationen Vortragstätigkeiten auf der ganzen Welt, darunter in Argentinien, Brasilien, China, Italien, Portugal, Spanien und Deutschland. Im nächsten Jahr erscheint Heiner Klemmes Buch „Sich selbst erhalten. Kants Apologie der Vernunft heute“ im Stuttgarter Reclam-Verlag.
Prof. Dr. Heiner Klemme
Institut für Ethnologie und Philosophie
Tel.: + 49 345 55-24390
Mail: heiner.klemme@phil.uni-halle.de