Nationalisierung der Wissenschaft - Wie konnte das geschehen?
Ihr Vortrag trägt den Titel „Nationalisierung der Wissenschaft“. Worum geht es da genau?
Patrick Wagner: Im Kern geht es darum, zu zeigen, wie sich das deutsche Wissenschaftssystem vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1933 entwickelt hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die deutsche Wissenschaft noch sehr international ausgerichtet. Dann nationalisierte sich das System in zweifacher Hinsicht: Die Forscher kappten die internationalen Kontakte und isolierten sich. Zugleich entwickelte sich an den Universitäten die Vorstellung, ein seriöser Wissenschaftler müsse gleichzeitig Nationalist sein. Eine solche Haltung gehörte in den 1920er Jahren zum Mainstream. 1933 wurde dann ein Fünftel aller Mitarbeiter an den Hochschulen entlassen und mit nationalistisch gesinnten Wissenschaftlern ersetzt – ohne dass es dagegen großen Widerstand oder Kritik gab. Wie konnte das sein? Diese Frage ist zu beantworten.
Welche Rolle spielte der 1. Weltkrieg dabei?
Anfang des 20. Jahrhunderts hatte das deutsche Wissenschaftssystem seinen Höhepunkt erreicht. Es gab in fast allen Disziplinen international den Ton an und zog deshalb auch viele Ausländer an. Wer etwas auf sich hielt, der studierte in Deutschland. Diese Spitzenposition war aber schon vor 1914 in Gefahr, denn die amerikanischen Forschungsuniversitäten holten auf. Der 1. Weltkrieg war dann in zweierlei Hinsicht ein großer Einschnitt. Erstens positionierten sich die deutschen Professoren durch öffentliche Appelle extrem polemisch, ja chauvinistisch für den Sieg ihrer Nation. Damit isolierten sie sich international auf lange Zeit. Zweitens hielten sie nach 1918 den relativen Niedergang ihrer internationalen Bedeutung für eine unmittelbare Folge von Krieg und Revolution. Daher hielten sie in ihrer großen Mehrheit feindselige Distanz zur Weimarer Republik und propagierten einen Revanchekrieg, ihre Grundhaltung blieb aggressiv nationalistisch.
Welche Aspekte der damaligen Entwicklung erforschen Sie?
Ich schreibe gerade über die Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Sie wurde 1920 als Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft gegründet. Allein dieser Name drückt das damalige Gefühl aus, man sei in Not geraten und müsse durch verstärkten emotionalen Zusammenhalt darauf antworten. Die DFG ist ein wichtiger Forschungsgegenstand, denn ihre Geschichte repräsentiert die deutsche Forschung zur damaligen Zeit. Es gibt viele Bücher über die Geschichte einzelner Hochschulen oder über eine bestimmte Disziplin. Sie alle sind wichtig, beschreiben aber jeweils nur einen Ausschnitt. In der DFG hingegen sammelten sich seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts Forscher aller deutschen Hochschulen und aller Disziplinen. Daher kann man an den Debatten, die in der DFG geführt wurden, an den Anträgen, die an sie gerichtet wurden und an den Gutachten, die für sie geschrieben wurden, ablesen, welche Vorstellungen von seriöser Wissenschaft, welche Wertorientierungen zu einem bestimmten Zeitpunkt dominierten. Für die zwanziger bis vierziger Jahre erkennt man: Der vermutete Nutzen eines Projektes für "das deutsche Volk" stand oft im Vordergrund. Zur Aufarbeitung der Geschichte dieser Einrichtung läuft seit 2002 ein großes Forschungsprojekt mit mehr als 20 Einzelprojekten. Meine Aufgabe ist es, die Gesamtdarstellung zu schreiben.
Spielt die Universität Halle in Ihrer Forschung eine Rolle?
Wir haben ausgezeichnete Leute, die sich mit der Geschichte an der Universität Halle beschäftigen. Mein Vortrag am Dienstag wird aber eher den Rahmen darstellen, in dem sich die deutschen Universitäten damals insgesamt bewegten.
Die Vorlesung findet am Dienstag, 12. Mai 2015, um 18 Uhr im Hörsaal XX des Melanchthonianums am Universitätsplatz statt.
Auftakt einer Vorlesungsreihe
Der Vortrag ist Auftakt einer jährlich stattfindenden Reihe, die sich mit der Geschichte der Universität in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts befasst. Die Vorlesungsreihe wird im Auftrag des Rektorats der MLU von einer Kommission organisiert, die sich unter der Leitung von Dr. Friedemann Stengel von der Theologischen Fakultät mit der Aufarbeitung der Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert befasst. Im Rahmen der Arbeit der Kommission fand am 27. November 2013 bereits eine Gedenkveranstaltung für die von 1933 bis 1945 entlassenen Hochschullehrer der Uni Halle statt. Außerdem ist ein Gedenkband mit dem Titel „Ausgeschlossen" erschienen, der zahlreiche Biografien entlassener Hochschullehrer aus Halle versammelt.