Publikation: Die ersten 100 Jahre des Christentums
Am Anfang steht – ausgehend von Leopold von Rankes Postulat, nur zu „zeigen, wie es eigentlich gewesen“ und Johann Gustav Droysens Differenzierung zwischen Vergangenem und Unvergangenem innerhalb der „Vergangenheiten“ – eine kritische Auseinandersetzung mit dem Prozess der Geschichtsschreibung als „Gegenwarts- und Vergangenheitsdeutung“. Sie ist „nie ein pures Abbild des Gewesenen, weil sie selbst immer eine Geschichte hat, nämlich die Geschichte des Schreibenden“.
Statt für ‚Objektivität’ (als Gegenstück zur ‚Subjektivität’) plädiert Schnelle zugunsten des unerlässlichen „fiktional-kreativen Elements jeder Geschichtsschreibung“ eine „umfassende Einbeziehung aller relevanten Quellen“, um zu sinnstiftender ‚Angemessenheit’ historischer Argumente zu gelangen.
An die Stelle des üblichen Terminus technicus „Urchristentum“ setzt der Autor das „frühe Christentum“ als weitgehend neutralen Begriff. Die „Bewegung der Christusgläubigen“ innerhalb „eines neuen (zunächst innerjüdischen) Diskurses“ beginnt mit dem Ende des irdischen Lebens des Jesus von Nazareth, den die Römer als Aufrührer kreuzigten, vermutlich am 7. April des Jahres 30.
Eine nächste Stufe setzt um das Jahr 130 ein: die frühen Christen fangen an, sich öffentlich vom Glauben der Griechen und Juden abzugrenzen. Sie verehren Gott „auf eine dritte Weise“; als neue literarische Gattung kommen Apologien auf; die Gnosis entsteht als eigenständige Großbewegung innerhalb des Christentums.
Das Kapitel „Voraussetzungen und Kontexte“ liefert die Grundlagen zum Verständnis der Entstehung des Christentums aus seinen kulturellen, sozialen und ökonomischen Wurzeln heraus, die in der griechischen und römischen Antike und im Judentum zu suchen sind.
Weitere Kapitel sind der Jerusalemer ‚Urgemeinde’ sowie den parallel entstehenden Gemeinden außerhalb Jerusalems – vor allem in Galiläa, Judäa und Samaria, ferner in Damaskus, Antiochia, Rom und Alexandria – und dem Apostelkonvent im Jahr 48 gewidmet. Anlass für letzteren, der „das bedeutendste historische Einzelereignis in der Geschichte des frühen Christentums“ darstellt, war die Uneinigkeit über die Vorbedingungen der Zugehörigkeit zum auserwählten Gottesvolk, vornehmlich die Frage der Initiationsriten. Reicht die Taufe allein aus, oder ist auch die Beschneidung unerlässlich?
Zudem wurde die Frage nach der Gültigkeit jüdischer Reinheits- und Speisevorschriften für „Heidenchristen“ heiß diskutiert – und führte letztlich zum sogenannten antiochenischen Zwischenfall. Die Ergebnisse des Konvents wurden später verschieden interpretiert. Streit gab es überdies hinsichtlich der verschiedenen Missionsgebiete der einzelnen Apostel. Die nachfolgende Trennung zwischen Paulus, der aus Tarsus kam, und Barnabas (Josef aus Zypern) war der Ausgangspunkt der im Kapitel 8 detailliert dargestellten „eigenständigen paulinischen Mission“, zu deren Charakteristika die Paulusbriefe zu zählen sind.
Um das Jahr 70 (nach der Steinigung des Herrenbruders Jacobus und der Zerstörung des Tempels in Jerusalem sowie dem Märtyrertod der Apostel Petrus und Paulus bei den neronischen Christenverfolgungen in Rom) durchlebte das frühe Christentum eine Krise, zu deren Bewältigung die Entstehung neuen Literaturgattungen – der synoptischen Evangelien (Meistererzählungen von Markus, Matthäus und Lukas) und pseudepigraphischer Schriften – nicht unwesentlich beitrug.
Zugleich entstanden in der Nachfolge der Paulusbriefe verschiedenartige Deuteropaulinen: Kollosserbrief, Epheserbrief, Thessalonikerbrief und die Pastoralbriefe, alle mit dem Ziel, den Gemeindegliedern ein gottgefälliges Leben nahe zu bringen, die Geschichte des Christentums zu bewahren und sie künftigen Generationen zu überliefern. Einen besonderen Platz nehmen das Johannesevangelium und die johanneische Schule ein, deren Begriffs- und Bilderwelt den neuen, christlichen Glauben auch für das griechische Bildungsbürgertum attraktiv erscheinen ließ.
Die Kapitel 11 und 12 rekapitulieren Gefährdungen und Verfolgungen der frühen Christen. Innerhalb der Gemeinden erwuchsen die größten Herausforderungen aus dem Ausbleiben der Parusie (der Wiederkunft Jesu Christi) und der wachsenden sozialen Heterogenität. Daneben wird als Bindeglied zwischen den oft sehr gebildeten frühen Christen und als Movens im Sinn der Eigenständigkeit der neuen monotheistischen Bewegung, parallel zur Akzentverschiebung von ländlichen hin zu städtischen Wirkungsstätten, permanent die Literatur hervorgehoben, und damit die Dimension des frühen Christentums als Bildungsreligion.
Als Fazit bietet der Verfasser „Fünfzehn Gründe für den Erfolg des frühen Christentums“, gefolgt von einem umfänglichen Literaturverzeichnis nebst differenziertem Stellenregister. Dem vorrangig wissenschaftlich Interessierten kommen die vielen Kapiteln vorangestellten Quellenangaben zugute – zahllose Möglichkeiten, zusätzliche Zugänge zum Thema zu finden. Grafisch markiert fürs Durchblättern, fallen eiligen Lesern ständig spannende Stichworte ins Auge, an denen sie sich schnell festlesen, zum Beispiel: Innere Freiheit, die Evangelien als Gedächtnis, Die ‚Zwölf’ und die ‚Sieben’, Wanderpropheten, Das Kreuz als Erkenntnisort …
► Udo Schnelle: Die ersten 100 Jahre des Christentums 30–130 n. Chr. Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion, Göttingen/Bristol 2015, 592 Seiten, zahlreiche Fotos, Tafeln und Karten, 29,99 Euro, ISBN: 978-3-8252-4411-8 (UTB)