Rezension: Streitfall Halle-Neustadt
Vor einem halben Jahrhundert, am 15. Juli 1964 – 25 Jahre vor der politischen Wende von 1989/90 – wurde der Grundstein für Halle-Neustadt, anfangs als „Halle-West“ bekannt, gelegt. Angesichts einer weit über tausendjährigen Stadt eine Fußnote nur, könnte man meinen – doch in der neueren Stadtgeschichte stellt das ein durchaus gewichtiges Ereignis dar. Diesem wurde nun, mit 125 Beiträgen von 47 Autoren, ein ebensolches Buch gewidmet. Es beleuchtet die Realisierung dieser „Idee des Neuen Bauens“ und ihre Bedeutung damals und heute. Denn am realen Resultat dieses innerhalb des DDR-weiten Wohnungsbauprogramms einzigartigen Plans, inklusive verlorener Illusionen der Anfangszeit und dem Umgang damit, scheiden sich die Geister bis in die Gegenwart.
Der Sozialwissenschaftler und Direktor des Instituts für Hochschulforschung an der MLU Peer Pasternack versammelte ein Autorenteam mit breitem Fächerspektrum, um dem vielschichtigen Wesen dieses Kommunalkonstrukts auf den Grund zu gehen, seine Geschichte auszuloten, sein Potenzial zu erforschen und seine Perspektiven sichtbar zu machen.
Eine Wohnung in „Ha-Neu“ – fernbeheizt, mit Bad und Balkon –, das war zu DDR-Zeiten für die meisten wie ein Hauptgewinn in der Lebenslotterie. Unwichtig, dass man vielleicht jahrelang auf ungepflasterten Wegen durch den Schlamm stapfen und an zugigen Haltestellen auf verspätete Busse warten musste. Zu Hause kam warmes Wasser aus der Wand, der Kindergarten war um die Ecke, in der Kaufhalle gab’s manchmal Bananen. Und es würde ja alles noch viel besser werden. Sogar ein prächtiger Kulturpalast sollte gebaut werden (was allerdings nie geschah)!
Unumstritten war dies Arbeiterparadies – so schnell wie möglich vor allem für Zehntausende Arbeiter der Chemiewerke Leuna und Buna gebaut – nie. Diverse Kontroversen zwischen Architekten und Bauarbeitern auf der einen, Stadt, Staat und Partei auf der anderen Seite gab es von Anfang an. Wer Brigitte Reimanns gesellschaftskritischen Roman „Franziska Linkerhand“ gelesen hat, weiß (auch wenn es darin nicht um Halle-Neustadt sondern um Hoyerswerda ging) bestens Bescheid.
Trotzdem wohnen mehr als 50 Prozent der Halle-Neustädter – deren Zahl zwar seit 1990 von 90.000 auf 45.000 schrumpfte, aber wohl noch immer höher als in einer größeren Kleinstadt ist – bis heute gern dort. Die andere Hälfte ging weg: wegen besserer Jobs anderswo, aus privaten Gründen oder weil ihnen die zwar recht komfortable, aber doch zu sehr genormte Stereotypie mehr und mehr als Albtraum erschien. Daneben mögen soziale Veränderungen – eine gewisse Überalterung, wachsende Arbeitslosigkeit, der Zuzug von Ausländern – eine Rolle gespielt haben. Diejenigen hingegen, die blieben, taten das nicht nur wegen der nach wie vor niedrigen Mieten (Kaltmiete 2012: durchschnittlich 4,41 €/m2); mindestens ebenso schätzen sie höhere Lebensqualität, bessere Einkaufsmöglichkeiten und Verkehrsanbindungen, mehr Grün …
An das weitgehend wirklichkeitsfremde Ideal „sozialistischer Lebensweise“ erinnern sich selbst die Ureinwohner kaum, eher an das permanente Baustellenflair, Gummistiefel, allgegenwärtige Kindertagesstätten, die legendären HP-Schalen, zahllose Brunnen, Wand- und Standbilder … Etliches davon blieb erhalten oder wandelte sich, anderes verschwand. Manches wurde durch oftmals überregionale Veranstaltungen wie die die IBA 2005 und 2010 sowie die Landesinitiative URBAN 21, Aktionen wie die Internationale Sommerschule, die Ausstellung „Shrinking Cities“ oder das Auftragsstück „X(ics)“ im Rahmen des Festivals „Theater der Welt“ 2008 und einen fiktiven Ausblick auf das Jubiläum „100 Jahre Platte“ im Jahr 2073 kreativ-kritisch hinterfragt oder sogar aufgewertet.
Das Gesamtprojekt Halle-Neustadt indessen – nicht zuletzt die Beratungs- und Begegnungsstätte Bürgerladen e. V. und das Mehrgenerationenhaus „Pusteblume“ belegen das – scheint nach 50 Jahren zu einer unendlichen Geschichte mutiert.
Angaben zum Buch
Peer Pasternack u. a.: 50 Jahre Streitfall Halle-Neustadt. Idee und Experiment. Lebensort und Provokation, Halle 2014, 606 S., 19,95 Euro, ISBN 978-3-95462-287-0