Röntgenblick in die Vergangenheit
Nüchtern-funktional ist der Raum. An den Wänden stehen helle Schränke, der Fußboden ist gewienert, Neonlampen verbreiten kühles Licht. Diagonal in die Raummitte ragt eine Liege, an deren Ende sich ein schmaler Tunnel öffnet: ein Computertomograph (CT). So sieht er aus, der CT-Untersuchungsraum der Klinik und Poliklinik für Diagnostische Radiologie des Universitätsklinikums Halle. So weit, so gewöhnlich, werden am Uni-Klinikum doch täglich Patienten in der Radiologie untersucht und behandelt. Nicht nur im CT, sondern gleichermaßen mittels konventionellem Röntgen, Angiografie oder Magnetresonanztomographie.
Doch es waren auch schon sehr spezielle Patienten im CT-Untersuchungsraum zu Gast. Sie stammen aus einer Zeit, als noch nicht einmal ansatzweise an die heute selbstverständlichen radiologischen Untersuchungsmethoden zu denken war. Und das hat auch damit zu tun, dass mit Oberarzt Dr. Silvio Brandt nicht nur ein Mediziner, sondern auch ein Hobbypaläontologe am halleschen Uniklinikum arbeitet, der ein Faible für besondere Funde hat. „Andere Institutionen sind für solche Untersuchungen auf mich zugekommen“, sagt der 46-Jährige.
Brandt ist außerdem froh, dass ihn sein Chef Prof. Dr. Rolf Peter Spielmann solche ungewöhnlichen Untersuchungen machen lässt. „In meiner Freizeit nach Dienstende und wenn kein Notfall da ist“, wie Brandt betont. Und so wurden bisher unter anderem fossile Haie, Saurier, ein Mammutschädel, ein Urvogel oder das Geiseltaler Urpferdchen geröntgt. Die Ergebnisse sind oftmals in wissenschaftliche Studien veröffentlicht worden.
Ein Massengrab auf dem Tieflader
Silvio Brandt wurde ebenfalls konsultiert, als es darum ging, herauszufinden, ob die 2008 überraschend bei Ausgrabungen im Magdeburger Dom gefundenen Gebeine wirklich jene der Königin Editha sind. „Wir haben hier optimale Labor-Voraussetzungen, deshalb ist sie nach Halle gekommen“, ergänzt er. Und: „Sie waren es.“ Das Röntgen von historischen Funden birgt entscheidende Vorteile: „Es sind zerstörungsfreie Untersuchungen, man kann eine höhere Strahlendosis verwenden als bei lebenden Patienten und erhält damit bessere Bilder. Und es entstehen im Gegensatz zum konventionellen zweidimensionalen Röntgen dreidimensionale Bilder“, sagt Brandt.
Das hat sich auch das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt zunutze gemacht und einige Schädel aus dem Massengrab von Lützen, das bei Leipzig liegt, mit dem Computertomographen untersuchen lassen. „Ein Röntgengerät haben wir zwar, aber natürlich kein CT, deswegen waren wir über die Unterstützung sehr erfreut. Das sind wichtige ergänzende Untersuchungsmethoden für den archäologischen Befund“, sagt die zuständige Anthropologin Nicole Nicklisch vom Landesamt, die Silvio Brandt schon länger kennt. Weil man die Skelette in der Ausstellung zeigen wolle, sei es nicht möglich gewesen, sie vollständig aus dem Block zu entnehmen. „Wir hätten sie nicht wieder korrekt in der ursprünglichen Lage platzieren können“, sagt Nicklisch. Deswegen habe man sich bei der Entnahme nur auf einige Schädel sowie zur Vermessung der Körpergröße auf einige Langknochen wie Oberschenkel und Schienbeine beschränkt.
Silvio Brandt erklärt, was man anhand der Bilder erkennen kann (Slideshow):
Das Grab aus dem Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) wurde im Herbst 2011 entdeckt und in zwei großen, mit Holzvertäfelung umschlossenen Quadern mitsamt Erdreich geborgen. Auf Tiefladern wurden die beiden Teile nach Halle gebracht, um sie unter Laborbedingungen in der Werkstadt des Landesmuseums besser freilegen und restaurieren zu können. Das Grab datiert auf das Jahr 1632. Im November jenes Jahres ließ Schwedenkönig Gustav II. Adolf im Kampf gegen die Truppen des böhmischen Herzogs Albrecht von Wallenstein bei Lützen sein Leben.
Und mit ihm tausende Soldaten, von denen 47 Männer im Alter zwischen 15 und 50 Jahren in dem geborgenen Massengrab beerdigt worden sind, wie die Anthropologin Nicole Nicklisch vom Landesmuseum berichtet. Die Masse an Knochen, die dicht an dicht auf kleinem Raum nebeneinander liegen, ist faszinierend und erschreckend zugleich. Es sind die bislang einzigen gefundenen Überreste von Gefallenen dieser Schlacht.
Nicklisch hat die Knochen mit allen möglichen Methoden untersucht, um Hinweise auf Herkunft, Alter und Ernährung der Soldaten zu finden. Interessant sei auch, dass die von der Lützener Bevölkerung statt von ihren Kameraden beerdigt worden sind, sagt sie. „Auffällig war zudem die hohe Anzahl an Schädelschussverletzungen“, fügt die Anthropologin hinzu. Immerhin weisen 21 Schädel diese nahezu kreisrunden Löcher auf. „Es ist gut, wenn man diese Befunde mit Medizinern diskutieren kann“, sagt sie über die Zusammenarbeit mit Brandt.
Wie starben die Soldaten?
„Es ging darum, Verletzungsmuster zu klären“, sagt der Oberarzt. 16 Schädel sind dafür von 2012 bis 2013 im CT untersucht worden. Dabei fand er heraus, dass einige der Männer hinterrücks erschossen wurden. „Die Befunde weisen Schussverletzungen von oben leicht nach unten führend auf, was darauf schließen lässt, dass einige der Soldaten zu Fuß vor Berittenen davongelaufen sind und von hinten getroffen wurden“, erklärt Brandt und zeigt dabei auf die CT-Aufnahmen auf dem Bildschirm in seinem kleinen, abgedunkelten Büro. Eine kurze Bewegung mit der Maus und die Aufnahmen eines Schädels laufen ab wie ein Film, so dass sich auch der Schussverlauf gut nachvollziehen lässt.
Außerdem lässt sich der Betrachtungswinkel der Aufnahme so verändern, dass der Knochen in 360-Grad-Perspektive betrachtet werden kann. Aufgrund der Untersuchungsmethode konnte auch das Sediment der Fundstelle in den Schädeln bleiben. „Das sind die lilafarbenen Flecken auf den Aufnahmen“, sagt Brandt. In einigen Schädeln steckten sogar noch die Bleikugeln – ganz oder zersplittert. Das lasse Rückschlüsse auf die Entfernung der Schützen zu, so Brandt. Simpel gesagt: Je näher man der Waffe war, desto mehr Durchschlagskraft hatte sie. Geschossen wurde damals, vor fast 400 Jahren, hauptsächlich mit Musketen und Pistolen.
Auch im Nachhinein sind noch Frakturen an den Knochen entstanden. Das Gelände des damaligen Schlachtfeldes, das von der alten Handelsstraße Via Regia und heutigen Bundesstraße B87 durchschnitten wird, wurde bis heute als Feld genutzt und ist teilweise bebaut. Schwere Landwirtschafts- und Baugeräte haben demnach ebenfalls Spuren hinterlassen, denn das Grab lag relativ nah an der Oberfläche. „Man kann anhand der Aufnahmen auch sehen, welche Verletzungen jünger sind und diese als Todesursachen ausschließen“, sagt Brandt.
Auch kann er bei historischen Funden anhand der radiologischen Aufnahmen mit hoher Wahrscheinlichkeit erkennen, „was echt und was manipuliert ist“, ergänzt er. Nachdem die Untersuchungen nun abgeschlossen und die Todesursachen eines Großteils der 47 Männer geklärt sind, wird das Massengrab ab 6. November 2015 und bis 22. Mai 2016 als Teil der Sonderausstellung „Krieg – eine archäologische Spurensuche“ im Landesmuseum für Vorgeschichte gezeigt. Silvio Brandt wird sicher dafür die gewienerten Böden und funktionalen Räume der Radiologie am Uni-Klinikum verlassen und einer der Besucher sein.