Sowjetdeutsche: Historikerinnen sichern Lebensgeschichten

In Ihrem Projekt sprechen Sie von so genannten Sowjetdeutschen. Welche Menschen zählen in Ihrem Verständnis dazu?
Anne Kluger: Wir verwenden den Begriff für Menschen, die in der Sowjetunion geboren wurden, aber einer deutschen Familie entstammen. Das bedeutet: Menschen, deren Familien seit dem 18. Jahrhundert ins Russische Reich eingewandert sind. Die Bezeichnung macht außerdem – anders als der Begriff Russlanddeutsche – deutlich: Nicht alle haben auf dem Gebiet des heutigen Russlands gelebt. Und nicht alle sind – anders als der auch häufig verwendete Begriff Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler suggeriert – in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen. Im Rahmen unseres Projekts konzentrieren wir uns auf Menschen aus der älteren Generation, die ab den 1930er Jahren bis Anfang der 1950er Jahre geboren wurden. Sie haben zum Teil noch eigene Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs und an die stalinistischen Repressionen.
Warum ist diese Gruppe interessant für die Forschung?
Kluger: Man weiß noch sehr wenig über die Erfahrungen dieser Menschen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren wurden. Ich habe in osteuropäischer Geschichte promoviert und kenne die offenen Fragen, die es noch in der Forschung zu den Sowjetdeutschen gibt. Außerdem habe ich wahrgenommen, dass in den Medien insgesamt viel über „die Russlanddeutschen“ gemutmaßt wird und über ihre politischen Einstellungen, etwa ihre Haltung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine oder zur AfD. Allerdings wird wenig mit ihnen gesprochen. Während sich die jüngeren Menschen selbst aktiv gegen Vorurteile zur Wehr setzen, kommt die ältere Generation kaum zu Wort. Diesen Eindruck teile ich mit Alexandra Kolesnikova. Sie führt die Interviews mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und bringt auch ihre eigene Familiengeschichte mit in das Projekt.
Wie sieht diese Geschichte aus, Frau Kolesnikova, und was verbinden Sie mit dem Projekt?
Alexandra Kolesnikova (geb. Kenig): Ich wurde 1997 in Tscheljabinsk im Ural geboren und bin selbst eine so genannte Russlanddeutsche. Ich kam 2007 als Zehnjährige nach Deutschland. Meine Großmutter, sie ist Jahrgang 1937, stammt aus einer deutschen Familie und hat bis 1941 in der Wolgadeutschen Republik gelebt. Das war ein autonomes sowjetisches Gebiet an der Wolga, das für die Nachkommen der seit dem 18. Jahrhundert dort angesiedelten deutschen Kolonistinnen und Kolonisten geschaffen wurde, bevor es im Zweiten Weltkrieg aufgelöst und seine Bevölkerung deportiert wurde. Sie hat den Zwang, das schwere Leben und den enormen Druck noch erlebt, dem Deutsche in der Sowjetunion ausgesetzt waren. Dabei hat sie bis vor kurzem nichts über diese Erfahrungen erzählt und hat bis heute ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Sowjetunion. Seit dem Gespräch mit meiner Großmutter interessiert mich, wie andere Sowjetdeutsche derselben Generation mit ihrer Familiengeschichte umgehen und wie sie sich zur Sowjetunion und zu heutigen politischen Fragen positionieren.
Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur fördert ihre Arbeit. Was ist das konkrete Ziel Ihres Projekts?
Kluger: Es handelt sich nicht um ein klassisches Forschungsvorhaben, sondern um ein Dokumentationsprojekt. Unser Hauptanliegen ist es, die Lebensgeschichten erst einmal zu sichern, denn viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind schon sehr alt. Diese Geschichten sollen am Ende des Projekts veröffentlicht werden und können dann die Grundlage für weitere Forschungsarbeiten darstellen.
Wie haben Sie die Interviews geführt und wie viele werden es bei Projektende insgesamt sein?
Kolesnikova: Bisher habe ich 15 Gespräche geführt, insgesamt werden es 18 sein. Die Gespräche sind sehr umfangreich und manche dauerten länger als vier Stunden. Die Gespräche sind lebensgeschichtliche Interviews, das heißt, die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen mir ihre Lebensgeschichte, so wie sie es möchten, und ich frage dann nach. Darüber hinaus haben uns zwei Familien die Aufzeichnungen ihrer bereits verstorbenen Angehörigen zur Verfügung gestellt, die Ende der 1920er Jahre geboren wurden.
Was ist Ihnen in den Gesprächen besonders aufgefallen?
Kolesnikova: Ich habe sehr unterschiedliche Menschen erlebt. Einige hatten eine starke Eigenmotivation, ihre Geschichte zu erzählen. Andere, besonders die Älteren, waren eher unentschlossen und mussten oft von ihren Kindern oder Enkelkindern zur Teilnahme am Projekt ermutigt werden. Aufgefallen sind mir auch einige Gemeinsamkeiten in den Schilderungen: Bevor die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mit ihrer Lebensgeschichte begannen, machten viele zunächst einen Exkurs in die Historie und erklärten mir aus ihrer Sicht die Hintergründe der deutschen Besiedlung in Russland.
Kluger: Die Befragten konnten wählen, in welcher Sprache das Interview geführt werden sollte. In einigen Gesprächen ist uns aufgefallen, dass unser Gegenüber zwischen Deutsch und Russisch gewechselt hat, je nachdem, um welchen Lebensabschnitt oder Erfahrungsbereich es ging. Das zeigt uns, dass beide Sprachen zur Lebensgeschichte gehören.
Können Sie ein paar Beispiele nennen, worüber Ihnen die Menschen berichtet haben?
Kolesnikova: Besonders im Gedächtnis ist mir ein älterer Mann geblieben, der sehr ängstlich wirkte, während er über seine Kindheit im Zweiten Weltkrieg erzählte. Unter Tränen berichtete er, wie alle Männer aus seinem in Sibirien gelegenen deutschen Dorf zur Zwangsarbeit abgeholt wurden. Oft fiel ihm dabei das Sprechen schwer, aber als er fertig war, wirkte er auch erleichtert. Wiederkehrende Themen in fast allen Geschichten sind das Leid der eigenen Eltern, das Gulag-System, unter dem sie zu leiden hatten, besonders bei älteren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auch der Hunger, fehlende Kleidung und schwere Arbeit im Kindesalter. Darüber hinaus haben unsere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sehr viel über ihre Arbeitserfahrungen, ihr Leben im Kollektiv, die Beziehungen mit ihren Eltern oder Anekdoten aus der Schulzeit gesprochen. Sehr vielfältig berichteten sie über ihre Ankunft in Deutschland - schließlich kamen bei unserem Projekt Menschen zu Wort, die von 1968 bis 2004 eingereist sind. Auch ihre Positionen zu aktuellen politischen Themen, wie dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, waren sehr unterschiedlich.
Den Großteil der Interviews haben Sie bereits geführt. Wie geht es weiter?
Kluger: Insgesamt haben wir jetzt schon über 35 Stunden Interviewaufnahmen und zwei autobiografische Aufzeichnungen, außerdem Scans von Fotos, Zeichnungen, Gedichten, Briefen und behördlichen Unterlagen, die uns von unseren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen übergeben wurden. Der nächste Schritt ist für uns die Transkription und Übersetzung der Interviews. Im Anschluss werden sie mit Hilfe des Historischen Datenzentrums der MLU in eine Forschungsdatenbank eingepflegt, wo sie auf Deutsch und Russisch abrufbar sein werden. Dort stellen wir auch die anderen Materialien unserer Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zur Verfügung.
Werden Sie auch selbst mit den Interviews forschen?
Kluger: Wir können uns sehr gut vorstellen, mit dem Thema und den gewonnenen Daten weiterzuarbeiten. Zunächst gilt es aber, das Projekt abzuschließen und die Daten online zu publizieren. Dann werden wir ein kleines, aber bedeutsames Archiv geschaffen haben. Wir sehen den Wert unserer Arbeit gerade darin, dass die Aufnahmen nicht nur uns zur Verfügung stehen, sondern unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, den Familien unserer Gesprächspartnerinnen und -partner, aber auch für Kulturarbeit und Journalismus.
Weitere Informationen zum Projekt unter: https://www.geschichte.uni-halle.de/struktur/neuzeit/forschungsprojekte/dokumentationsprojekt/

