Störung nicht ausgeschlossen!
Wer im Ausland war und eine Fremdsprache beherrscht, der hat es am eigenen Leib erfahren: Die Kommunikation zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft verläuft nicht immer störungsfrei. Selbst bei gutem Willen lauern Tabus: Themen, die man besser nicht anspricht oder Dinge, die man nicht tut, da sie ungewollt zu Missverständnissen führen können. Wenn man diese Tabus nicht kennt, kann Gutgemeintes schnell im Tabubruch enden. „Um das zu vermeiden, bedarf es vor allem empathischer interkultureller Kompetenz“, erklärt Prof. Dr. Gabriela Lehmann-Carli. Dafür reiche es nicht aus, die Kultur und ihre Tabus zu kennen.
Man müsse sich vielmehr aktiv mit diesem Wissen auseinandersetzen und versuchen, sich in die Haut des anderen hineinzuversetzen. „Eine solche Empathie, im Sinne eines resonanten Mitfühlens, könnte für einen angemessenen Umgang mit Tabus sorgen. Nicht nur in der interkulturellen Kommunikation.“ Tabus sind Bestandteil einer jeden Gesellschaft, viele Beispiele kann die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin benennen. Homosexualität gilt vielerorts nach wie vor als Tabuthema, weitere Tabuzonen betreffen das politisch Korrekte und traumatisierende historische Erfahrungen, wie etwa die Konfrontation mit dem Holocaust.
Sonderfall Arzt-Patient-Kommunikation
Insbesondere im medizinischen Bereich werden Tabus mitunter temporär aufgehoben. Etwa dann, wenn der Arzt seine Patienten bei einer Untersuchung körperlich berührt, oder wenn über intime Aspekte von Erkrankungen gesprochen werden muss. Auch wenn schwierige Nachrichten im Kontext von Krankheit, Sterben und Tod zu überbringen sind, werden aktuelle Tabufelder berührt. „Darüber angemessen zu kommunizieren fällt auch vielen Ärzten nicht leicht. Mitunter blockieren sie ihre Empathie, aus Zeitmangel, aus kommunikativem Unvermögen oder weil sie das Leid der Patienten nicht aushalten können oder wollen“, sagt Gabriela Lehmann-Carli.
Über den medizinischen Diskurs in der Literatur ist sie auf ihr Forschungsthema gestoßen. „Die russische Literatur strotzt bis heute von geschilderten Traumata infolge einer suboptimalen Arzt-Patient-Kommunikation“, erzählt die Expertin für russische und polnische Literatur und Kultur. Namhafte Schriftsteller wie Michail Bulgakow und Anton Tschechow waren von Beruf Arzt. Auch Lew Tolstoi hat eine suboptimale Arzt-Patient-Kommunikation beschrieben.
Und im Roman „Krebsstation“ des Dissidenten und Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn finden sich authentische Schilderungen eines Krebspatienten, der ein Alter Ego des Autors ist. Erzählende Literatur, so lautet eine These des Kulturwissenschaftlers Fritz Breithaupt, sei relevant für das Einüben von Mustern der Empathie. Wie Tabus beim Beobachter oder Leser Empathie auslösen oder blockieren können und wie Empathie zur Bewältigung des Tabubruchs eingesetzt wird, erforschen heute Wissenschaftler verschiedener Fachdisziplinen.
Die Arzt-Patient-Kommunikation wird seit einigen Jahren auch in der Ausbildung angehender Mediziner geübt. So trainieren angehende Ärzte im Skills-Lab der Medizinischen Fakultät mit Hilfe von Simulationspatienten, angeleitet von einer Psychologin, wie man eine schwierige Diagnose vermittelt. „Das ist wichtig, denn Empathie ist durchaus trainierbar“, sagt Gabriela Lehmann-Carli. „In unzähligen Studien ist nachgewiesen worden, dass die Empathie des Arztes das gegenseitige Vertrauen, die Bereitschaft des Patienten mitzuwirken und den Therapieerfolg erhöht, nicht nur wegen einer besseren Wirksamkeit von Medikamenten“, erzählt sie. „Daran wird deutlich, welch großes Potenzial Empathie in sich birgt.“
Therapeutisches Schreiben?
Dies betreffe ebenso die Therapie von psychischen Erkrankungen und Traumata, in der ein empathischer Umgang mit dem Tabu unerlässlich ist. Expressives oder emotionales Schreiben berge hier therapeutisches Potenzial. Seit Mai 2012 treffen sich Praktiker und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen in regelmäßigen Workshops, um über einzelne Aspekte von Empathie und Tabu zu diskutieren. Gemeinsam mit der Übersetzungswissenschaftlerin Prof. Dr. Jekatherina Lebedewa, dem Mediziner PD Dr. Karl-Dieter Johannsmeyer und dem Sozialpädagogen Dr. Hans Lehnert leitet Lehmann-Carli den Interdisziplinären Forschungskreis Empathie-Tabu-Übersetzung. „Empathie und Tabu sind zwei Themenbereiche, die nur interdisziplinär zu bewältigen sind“, sagt sie.
Die Webseite des Forschungskreises bietet ein wissenschaftliches Diskussionsforum, welches innovative Projekte zum Problemfeld Empathie und Tabu im Kontext interkultureller Übersetzungsprozesse anregen soll. Auch eine Forschungsdatenbank unter Leitung der wissenschaftlichen Bibliothekarin Betty Johannsmeyer soll die Diskussion anregen. „Wir wollen die Datenbank allen zugänglich machen, die sich mit diesen Fragen befassen.“
Zwei Publikationen zu Empathie und Tabu(bruch)
Zwei Tagungsbände sind zum Thema bereits erschienen, ein dritter wird vorbereitet. In den Bänden 14 und 19 der Reihe „Ost-West-Express. Kultur und Übersetzung“ untersuchen Forscher und Praktiker die Zusammenhänge zwischen Empathie, Tabu und Tabubruch. Beide Publikationen sind im Verlag Frank & Timme erschienen.
- Gabriela Lehmann-Carli (Hg.): Empathie und Tabu(bruch) in Kultur, Literatur und Medizin, Berlin 2013, Band 14, 360 S., ISBN 978-3-86596-514-1
- Karl-Dieter Johannsmeyer, Gabriela Lehmann-Carli, Hilmar Preuß (Hg.): Empathie im Umgang mit dem Tabu(bruch). Kommunikative und narrative Strategien, Berlin 2014, Band 19, 348 S., ISBN 978-3-7329-0066-4
Kontakt: Prof. Dr. Gabriela Lehmann-Carli
Slawische Philologie / Literaturwissenschaft
Tel.: 0345 5523554
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