Unterrichten hinter Gittern
Mit Benjamin Metzers* Vergangenheit verhält es sich schwierig. Er sitzt in der Jugendarrestanstalt (JAA) in Halle. Hier sitzen Jugendliche und Heranwachsende mit von Gesetzesverstößen durchwobener Vergangenheit. Nur wenige kommen einmal; Metzer ist Stammgast. Bereits zum vierten Mal sitzt er in der JAA. Dieses Mal ist er hier wegen schwerer Körperverletzung und Einbruchs. „Scheiße gebaut“ nennt er das. Die Taten selbst bereue er nicht. Und trotzdem: „Es wäre gut, da mal rauszukommen.“ Damit meint er den immer gleichen Kreislauf von Gewalt und Straftaten. Ausprobiert habe er das bereits. „Aber dann kommt man nach Hause, trifft seine Freunde und dann geht es wieder los.“ Draußen könne man fast alles machen, "hier drinnen nicht.“ Draußen, da würde er am liebsten Autolackierer werden. Die Schule abschließen und dann die Ausbildung absolvieren. Wenn nicht wieder eine Straftat dazwischen kommt. Wie schon so oft.
In der JAA gibt es zwei Ausgänge am Tag, einen Duschgang, dazwischen drei Mahlzeiten und zwei Unterrichtseinheiten. Sport steht da auf dem Programm, Naturwissenschaften, Theater, Schuldenberatung und anderes mehr. Man werde fair behandelt, zumindest von den Lehrern, sagt Metzer. Und der Unterricht sei schon okay – besser als seine Zeit nur abzusitzen, wie es noch vor wenigen Jahren im Jugendarrest der Fall war. Am Dienstagvormittag gibt Julia Rüprich Sozialkundeunterricht. Sie selbst studiert an der Uni Halle Geschichte und Sozialkunde für Real- und Sekundarschulen.
Unterricht statt Langeweile
Heute steht das Thema Jugendgewalt auf der Tagesordnung. Das Klassenzimmer ist in grellem Gelb gehalten. Linien und geometrische Formen versuchen, den Eindruck von Wohnlichkeit zu erwecken. An der Wand hängt ein Whiteboard, neben dem Eingang steht ein Ständer mit Informationsbroschüren. Um Essstörungen geht es da, Schulden, Familienkonflikte – Probleme, mit denen viele der Insassen immer wieder kämpfen. In der Mitte des Raumes stehen vier quadratische Tische, an denen die Arrestanten Platz nehmen. Sieben dürfen teilnehmen. Die Plätze sind begehrt – alles ist besser, als auf der Zelle der Langeweile trotzen zu müssen. Die Jugendlichen mit Schulpflicht haben Vorrang, der Rest wird durch die Wärter zugeteilt.
Rüprich sitzt gleich neben den Arrestanten. Sie redet mit ihnen, als seien sie gute Bekannte und doch hält sie Abstand. „Hier darf man sich das Zepter nicht aus der Hand nehmen lassen“, sagt sie. Sie hat klare Regeln: „Wer mir auf die Nerven geht, fliegt raus.“ Die Arrestanten sind aufgedreht, weil sie aus ihrer Zelle rauskommen und in der Gruppe sind. Sie rangeln, drücken Sprüche, kommentieren und bewerten sich rücksichtslos. Ehrlich, aber hart. Rüprich zeigt ein Musikvideo. Ein Rapper singt da, beklagt Jugendgewalt, fordert Einhalt und einen aktiveren Staat. Es wird still in der Klasse. Dann folgt die Auswertung. Fast jeder hat bereits Gewalt erlebt. Es gebe immer wieder Gruppen, die sich an Schwächeren vergreifen: „Die schlagen auch zu, wenn man am Boden liegt!“ Die anschließende Frage: Wie soll man mit Mördern und Schlägern strafrechtlich umgehen? Die Arrestanten sollen ihre Gedanken aufschreiben. Diejenigen, die selbst wegen Körperverletzung einsitzen, fordern teils drakonische Strafen: Todesstrafe für Mörder, Prügelstrafe für Körperverletzung oder den Täter über Jahre hinweg in Ketten legen.
„Das ist oft so“, sagt Rüprich in der Pause zwischen den beiden Unterrichtseinheiten, in der die Arrestanten für 45 Minuten auf den Hof gehen. „Hier werden unvorstellbare Strafen gefordert. Geht es allerdings um die Jugendlichen selbst, dann empfinden sie die Strafe bereits jetzt als unangebracht. Weil hier etwas ungerecht lief oder dort jemand anderes Schuld hat. Bei den meisten gibt’s nicht mehr als Schwarz-Weiß-Bilder.“ Bilder, die die Studentin aufzubrechen versucht. Die Stimmung im zweiten Teil des Unterrichts ist deutlich aufgeheizter: Stifte fliegen, Sprüche ebenfalls. Längst ist die Konzentration auf das anstehende Mittagessen gerichtet. Um halb zwölf dann das Ende. Rüprich sieht ein wenig erschöpft aus. Als alleinerziehende Mutter zweier Kinder hat sie neben Uni und der JAA wenig Zeit zum Schlafen. Wirklich stören würde sie das aber nicht. Trotzdem werde sie das Programm irgendwann ausdünnen müssen, da sie zu wenig Zeit zum Durchatmen habe.
Respekt, aber keine Angst
„Aber in einer normalen öffentlichen Schule, da sehe ich mich auch nicht. Lieber würde ich etwas anderes machen“, sagt sie. Etwas, wie das, was sie zurzeit in der JAA macht. Einmal in der Woche unterrichtet sie hier. Vier Unterrichtseinheiten hat sie entwickelt: Zu Drogensucht, Jugendgewalt, Toleranz und Schulden. Mehr ist nicht nötig, denn die meisten Arrestanten bleibt nicht länger als vier Wochen.
Rüprich hat keine spezielle Ausbildung für ihre Arbeit in der JAA und dennoch weiß sie, die Gruppe angemessen zu behandeln. Sie versuche, die Arrestanten möglichst viel frei sprechen zu lassen, sie diskutieren und sich darstellen zu lassen. Der Verlauf der Sitzungen sei aber unberechenbar: „Gerade gibt es hier ein ziemliches Crystal-Problem, was den Umgang mit vielen Jugendlichen erschwert.“ Angst hat sie deswegen keine. Dazu ist sie zu souverän. Und im Notfall gibt es immer noch das Funktelefon in die Zentrale. Wirklich gebraucht hat sie das allerdings erst ein einziges Mal und der Häftling habe sich danach sogar bei ihr für seinen Aussetzer entschuldigt. Auch wenn die Stunden weit von normalem Unterricht entfernt sind: Ihr Ziel, die Arrestanten zum Nachdenken anzuregen, erreicht sie – „vielleicht nicht sofort im Unterricht, aber auf jeden Fall auf der Zelle“. Das gibt Hoffnung, dass junge Menschen wie Benjamin Metzer durch die Anregungen und Hilfestellungen der Lehrkräfte die JAA nie wieder von innen sehen.
* Name von der Redaktion geändert
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