Verräterische Briefwechsel und geplanter Ruhm

22.02.2023 von Katrin Löwe in Wissenschaft
Dem Aufbau einer digitalen Sammlung von deutschen Briefen aus dem 18. Jahrhundert widmet sich ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt, an dem das Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) beteiligt ist. Was mit diesen Korrespondenzen geplant ist und wie sie der Wissenschaft helfen, erklärt IZEA-Direktorin Prof. Dr. Elisabeth Décultot anlässlich der Auftakt-Tagung im Interview.
Die digitale Erfassung der Briefe aus dem 18. Jahrhundert ist Ziel des Projekts.
Die digitale Erfassung der Briefe aus dem 18. Jahrhundert ist Ziel des Projekts. (Foto: Arne Kienzl, ULB Darmstadt)

Was macht deutsche Briefe aus dem 18. Jahrhundert denn so interessant?
Elisabeth Décultot: International ist in den vergangenen Jahrzehnten das Interesse an Briefeditionen stark gewachsen. Das 18. Jahrhundert spielt dabei in der deutschen Geschichte eine grundlegende Rolle. Zunächst einmal, weil in dieser Zeit Briefe eine erhöhte Wertschätzung genießen. Die Korrespondenz von wichtigen Autoren wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim oder Johann Joachim Winckelmann wird fast schon zu deren Lebzeiten ediert. Auch die Autoren selbst denken daran, wie sie sie ediert sehen wollen. Das heißt, Briefe werden zwar im privaten Ton geschrieben, aber immer mit Blick darauf, dass sie auch von anderen gelesen werden könnten. Der Schweizer Gelehrte Johann Georg Sulzer, ein bedeutender Aufklärer, äußert in seinem Briefwechsel mit Johann Jakob Bodmer zum Beispiel explizit den Wunsch, dass die Briefe nach seinem Tod nicht verschwinden. Das geschieht auch, um den eigenen Nachruhm zu pflegen.

Neben dem qualitativen Aspekt gibt es ein quantitatives Phänomen: Briefe werden im 18. Jahrhundert in Deutschland vermehrt ausgetauscht, die Netzwerke der Korrespondenzen verschränken sich. Wir haben also insgesamt viel mehr Material als aus den vorherigen Jahrhunderten.

Und was lässt sich aus dem Inhalt ablesen?
Auf der Grundlage von Briefen können wir historische Zusammenhänge rekonstruieren. In Mitteldeutschland zum Beispiel gab es damals eine rege Streitkultur mit sehr vielen anonym veröffentlichten Streitschriften. Nur anhand von Briefwechseln lassen sich oft die Autoren dieser Pamphlete identifizieren.

Wer ist an dem Projekt beteiligt?
Es ist an drei Standorten angesiedelt. Wir am IZEA leisten insbesondere die grundlegende bibliografische Arbeit und sorgen für die Vernetzung der verschiedenen „Lieferanten“ von Daten, die bisher nur verstreut vorliegen. Die ULB der Technischen Universität Darmstadt und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften sorgen für die Datenverarbeitung und -vernetzung, also den technischen Hintergrund.

Mit wie vielen Korrespondenzen wollen Sie sich beschäftigen?
Für die erste Phase haben wir etwa 240.000 Briefe aus 1.100 Editionen und Briefdatenbanken ins Auge gefasst, insbesondere aus schon vorhandenen gedruckten Editionen, die wir jetzt retrodigitalisieren. Wir geben den Nutzerinnen und Nutzern der entstehenden Datenbank die Möglichkeit, sowohl auf die Metadaten – also Schreiber, Adressat, Datum oder Standort des Briefs – als auch auf den Volltext zugreifen zu können, der für sie mit digitalen Mitteln bisher nicht durchsuchbar war. Außerdem entstehen Image-Digitalisate von den Drucken. Ganz praktisch haben wir aus jedem Jahrzehnt einen Korpus von Briefen für diese erste Phase des Projekts identifiziert.

Wie lange wird das Projekt dauern und was planen Sie für die Zukunft?
Zunächst haben wir eine Förderung von rund 200.000 Euro pro Standort über drei Jahre. Ich würde mir wünschen, dass es der Beginn eines noch viel größeren Projekts ist. Es gibt zum Beispiel noch sehr viele handschriftliche Briefwechsel, die für die Forschung durchaus interessant sind, aber bisher nicht digitalisiert wurden. Seit Projektbeginn im September 2022 haben wir eine große Resonanz erlebt – und auch zur Auftakt-Tagung in dieser Woche haben sich wichtige Vertreterinnen und Vertreter aus der Forschung und aus Bibliotheken angemeldet. Auf jeden Fall kann das Projekt die Aufklärungsforschung in Halle noch weiter stärken.

 

Infos zur Auftakttagung am 23. und 24. Februar

Kategorien

Wissenschaft

Kommentar schreiben

Auf unserer Webseite werden Cookies gemäß unserer Datenschutzerklärung verwendet. Wenn Sie weiter auf diesen Seiten surfen, erklären Sie sich damit einverstanden. Einverstanden