Vier Anläufe: Soziologie an der Universität Halle-Wittenberg
Zu Beginn werden erste Anläufe zur Institutionalisierung der Soziologie vor 1918 anhand von in Halle lehrenden Professoren mit sozialwissenschaftlichem Hintergrund aufgezeigt. Dazu gehören Gustav Schmoller, Johannes Conrad, Albert Hesse, Rudolf Stammer, Heinrich Waentig, Georg Brodnitz und Helmuth Wolff. Die erste soziologische Vorlesung hielt im Wintersemester 1919 Max Frischeisen-Köhler, ihm folgten August Finger, Richard Thurnwald, Ernst Grünfeld, Georg Jahn, Gustav Boehmer und Theo Sommerlad.
Auf den ersten Lehrstuhl für Soziologie wurde im Oktober 1929 der aus Wien stammende Nationalökonom und Jurist Friedrich Hertz berufen. Mit Beginn des Nationalsozialismus nahm die Kritik an Hertz, der u. a. die herrschenden Rassentheorien kritisch betrachtete und sich mit Themen wie Migration, Menschenrechte und Humanismus beschäftigte, in Teilen der organisierten Studentenschaft zu. Zur Zeit des Nationalsozialismus, der in der Hochschulpolitik eine „Umgestaltung des Lehrkörpers durch Säuberung und Rekrutierung von Ersatz nach politischen Vorgaben“ sowie „Neuausrichtung der wissenschaftlichen Disziplinen nach ideologischen Gesichtspunkten“ verlangte, wurde Friedrich Hertz zum Sommersemester 1933 aus dem Dienst der Universität Halle entlassen. Er emigrierte nach Wien und von dort 1938 nach London.
Zwischen 1947 und 1949 gab es kurzzeitig wieder eine ordentliche Professur für Soziologie in Halle, die Max Gustav Lange und danach Leo Kofler innehatten. Langer wechselte 1949 an die Pädagogische Hochschule in Potsdam, verließ 1951 die DDR und lehrte danach an der Freien Universität in West-Berlin. Auch Leo Kofler blieb nur zwei Jahre in Halle, dann wurde er nach Kampagnen stalinistischer „Hardliner“ von der Universität verbannt. Auch er verließ die DDR, arbeitete in der Bundesrepublik als Autor und Dozent und später als Honorarprofessor an der Universität Bochum.
Erst 1963 nahm die Soziologie in Halle mit der Gründung einer „Kommission für konkret-soziologische Forschung“ erneut einen Anlauf zur Institutionalisierung. Die 1965 gegründete Soziologische Abteilung wurde 1970 zum Wissenschaftsbereich Soziologie, Leiter beider Einrichtungen war bis 1990 Rudhard Stolberg. Institutionalisierung, Studium und Lehre sowie Forschung am WB Soziologie sind ausführlich dargelegt.
Ein Ereignis sei hervorgehoben, das mit der 1975 an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg abgeschlossenen Dissertation von Rudolf Bahro und der Bahro-Affäre 1977 zusammen hängt. Einer der Gutachter der Dissertation war Rudhard Stolberg, der im Juni 1976 schrieb, die Schrift sei „außerordentlich anregend, und es ließe sich eine Vielzahl kluger Gedanken anführen, denen man zustimmen kann und die Anlaß zu weiteren Überlegungen geben“. Als 1977 in der Bundesrepublik Bahros Buch „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ erschien, geriet auch Stolberg in den Strudel der so genannten Bahro-Affäre. Wie er da wieder herausgekommen ist und „seinen“ Wissenschaftsbereich bis 1990 weiter leiten konnte, schildern die Autoren ausführlich.
Das letzte Kapitel ist der Neu- bzw. Wiedergründung des Instituts für Soziologie 1991 und dessen Entwicklung bis heute gewidmet. Im Anhang befinden sich neben umfangreichen Archivquellen und Hinweisen auf zitierte Literatur, einem Verzeichnis der Abkürzungen, Übersichten und Autoren und Autorinnen auch eine online gestellte Dokumentation über die Soziologie an der MLU zwischen 1945 und 1991.
Peer Pasternack, Reinhold Sackmann (Hrsg.): Vier Anläufe: Soziologie an der Universität Halle-Wittenberg. Mitteldeutscher Verlag 2013, 256 Seiten, ISBN 978-3-95462-070-8, 14,95 Euro